Einleitung

„Was machst du hier? Geh heraus!“

Das ist zu kei­nem Men­schen gesagt, der sich ver­steckt hat. Das steht auf der Grab­stele von Erika Krum­wiede. Und die hat sich nie ver­steckt. Im Gegen­teil. In ihren Aktio­nen, Instal­la­tio­nen, Semi­na­ren, Gesprächs­grup­pen, Erzäh­l­ex­pe­ri­men­ten und nicht zuletzt in ihren lite­ra­ri­schen Tex­ten wird offen­sicht­lich: Erika Krum­wiede zeigt sich, sie bezieht Posi­tion, spricht aus der Pri­vat­heit ins Öffent­li­che. Und sie ver­stört die Wahr­neh­mung. Die ein­fachste Frage – und davon konnte sie viele stel­len – führt in die Tiefe, auf den Grund. Und soweit woll­ten viele nicht gehen. Aus einer „Unschuld“ her­aus fragt sie. Viele der Gefrag­ten waren ver­blüfft und getrof­fen. Wenn man den Gedan­ken wei­ter­dachte. Wenn man nicht an der schein­ba­ren Nai­vi­tät der Fra­gen scheiterte.

Das Prin­zip von Erika Krum­wiede lässt sich zuge­spitzt for­mu­lie­ren: Vom Ein­fachs­ten auf das Größte schlie­ßen. Was für jeden selbst-verständlich ist, das wird aus einer ande­ren Per­spek­tive betrach­tet und befragt. Aus­sa­gen zu den „letz­ten Din­gen“, dar­auf zielte sie ab. Um dar­aus wie­der in die­sem gran­dio­sen Salto auf den All­tag zurück­zu­kom­men. Und unver­mit­telt zu fra­gen: Und was tust du?

Wenn Sie mehr aus dem Leben und Wir­ken von Erika Krum­wiede erfah­ren möch­ten, dann lesen Sie bitte hier die nach­fol­gende Bio­gra­fie. (Sie ist auch als Buch erschie­nen. Anga­ben dazu unter der Rubrik Ver­öf­fent­li­chun­gen.)


 

Zu die­sem Buch

Eine Bio­gra­fie in Frag­men­ten und eine Zeit­leiste über Leben und Wir­ken von Erika Krum­wiede wer­den in die­sem Band vor­ge­legt. Die Auto­ren haben fast zehn Jahre den umfang­rei­chen Nach­lass gesich­tet, geord­net und aus­ge­wer­tet. Sie sind den Spu­ren die­ser unge­wöhn­li­chen Frau im nach­ge­las­se­nen Mate­rial, in eige­nen mehr als drei­ßig Jah­ren dau­ern­den Begeg­nun­gen mit ihr und in zahl­rei­chen Gesprä­chen mit Freun­din­nen und Weg­ge­fähr­ten gefolgt.

Immer wie­der die Frage: Was an dem Leben von Erika Krum­wiede ist so beson­ders, um aus dem Nach­lass ein Archiv ein­zu­rich­ten. Die Ant­wort liegt hier vor und kann im umfang­rei­chen und ver­zweig­ten Text-, Foto- und Video­ma­te­rial vor allem im Inter­net auf einer eige­nen Seite www.archiv-kuriosum.de und in dem Band Was machst Du hier –Pro­sa­mi­nia­tu­ren und Anlass­texte erlebt wer­den.

Sie war keine „Berühmt­heit“, und schon jetzt sind es nur noch wenige Men­schen, die Erika Krum­wiede direkt erlebt haben. Aber in der akri­bi­schen Art, fast alles zu notie­ren und die ver­schie­denste Mate­ria­lien auf­zu­be­wah­ren, ergibt sich ein Lebens­bild einer Frau in so zahl­rei­chen Details und Ter­mi­nen, wie es wohl kaum von einem ande­ren Men­schen über­lie­fert ist. Zeit­ge­schichte, Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung, reli­giöse und gesell­schaft­li­che Strö­mun­gen, tech­ni­sche und mediale Ent­wick­lung; das alles exem­pla­risch in einem Lebens­lauf. Eine der vie­len Beson­der­hei­ten aus dem Nach­lass: von 1949 bis 2001 gibt es Bücher und Hefte, in die sie alle ihre Aus­ga­ben aus Ein­käu­fen fest­ge­hal­ten hat, zum Bei­spiel den Preis für Streich­höl­zer im Jahr 1949 oder den für But­ter im Jahr 2001.

Wie gründ­lich Erika Krum­wiede im All­täg­li­chen nach dem Grund suchte, das wird in ihren zahl­rei­chen „Samm­lun­gen“ deut­lich. Und natür­lich in ihrer Biblio­thek, ihren Schall­plat­ten und CD‚s, in ihrer selbst geplan­ten und bis ins kleinste Detail ein­ge­rich­te­ten Woh­nung. Gründ­lich auch die meter­di­cken Auf­zeich­nun­gen und Kom­men­tare. Und die Akten mit Gesprächs­no­ti­zen (von nahezu jedem Gespräch über fünf­zehn Jahre auf der Schreib­ma­schine mit meist drei Durchschlägen).

Ein Blick in ihre Sam­mel­räume: Da gab es einen Arbeits­kel­ler vol­ler Mate­ria­lien zur Gestal­tung. Und ihren gro­ßen Werk­tisch. Hier wur­den Instal­la­tio­nen, Aus­stel­lun­gen, Aktio­nen und das letzte (runde) Buch vor­be­rei­tet. In einem wei­te­ren Kel­ler­raum bewahrte sie alte Unter­la­gen auf, die auch in die Fami­li­en­ge­schichte reich­ten. In einem Abstell­raum sta­pel­ten sich Mate­ria­lien bis unter die Decke. Alles aus dem All­tag diente ihr als Gestal­tungs­mit­tel: meh­rere hun­dert sau­ber gesta­pelte Mar­me­la­den­glä­ser, hun­derte von Schach­teln und Ver­pa­ckun­gen ver­schie­dens­ter Art, Rohre, Styropor-Behälter, aus­ge­son­derte Haus­halts­ge­gen­stände, Glüh­bir­nen usw.

Ein drit­ter Raum, die „Wasch­kü­che“, war als Gesprächs­raum mit Pols­tern und Rega­len aus­ge­stat­tet. Viele hun­dert Begeg­nun­gen mit unter­schied­li­chen Men­schen oder Grup­pen ereig­ne­ten sich hier. Ein ein­fa­cher Gas­ofen wärmte den Raum im Win­ter. Tee ser­vierte sie in dem „Klas­si­ker“ von Melitta. In pink und in „erika­rot“. Die­ses beson­dere Rot fand sich in allen Lebens­be­rei­chen von der Klei­dung über den Akten­kof­fer bis zur Anrichte oder ihrem VW-Golf.

Aus die­sem Mate­rial und den ver­schie­dens­ten Anläs­sen, Ereig­nis­sen und Epi­so­den haben die Auto­ren ein bio­gra­fi­sches und sta­tis­ti­sches Buch ent­wi­ckelt. In einem wei­te­ren Band liegt eine Samm­lung der lite­ra­ri­schen Texte von Erika Krum­wiede vor.

 

„Was soll denn nun aus mei­ner gan­zen Arbeit wer­den? Die vie­len Pro­jekte, die Texte, meine Ideen? Das muß doch Zukunft haben.“

 

Die bei­den Freunde, die auf diese Fra­gen hin Erika Krum­wiede die Arbeit am Archiv ver­spro­chen haben, ver­su­chen mit den vor­ge­leg­ten Büchern, einer Aus­stel­lung und dem Inter­net­ar­chiv eine Ant­wort zu geben. Ob das über­haupt gelin­gen kann und ob eine Aus­kunft für die Zukunft darin liegt? Das kön­nen nur die Lese­rin­nen und Leser beurteilen.

Erika Krum­wiede wird aber für alle gesuch­ten und zufäl­li­gen Begeg­nun­gen in den Büchern und im Inter­net­ar­chiv in Erin­ne­rung bleiben.

 Ger­hard Dahle und Heinz Kattner

 

Nur beim Dilet­tan­ten decken sich Mensch und Beruf, und darum strömt bei ihm der ganze Mensch in seine Tätig­keit und sät­tigt sie mit sei­nem gan­zen Wesen, und dann ent­ste­hen jene mit Blut gefüll­ten, rei­chen Schöp­fun­gen, die voll von sach­li­chen Feh­lern und Unge­schick­lich­kei­ten sind, die aber kein gelern­ter Fach­mann je zustande bringt.“

Egon Fri­dell

 

Vor­wort zur Biografie

 „Kenne ich mich?“ Die Ant­wort ist mehr als eine Ahnung. Aber weni­ger, als wir zu ken­nen glau­ben. Und einen Ande­ren ken­nen? Wir las­sen uns Geschich­ten erzäh­len, hören Berichte und Kom­men­tare, ken­nen Zah­len und Eigen­ar­ten. Viel­leicht haben wir gemein­same Erleb­nisse aus den Lebens­jah­ren. Aber kennen?

In einem Gespräch, das auf Ton­band auf­ge­zeich­net wurde, sagt Erika Krum­wiede: „Einen Men­schen kann man nicht ken­nen ler­nen.“ Ken­nen wir Erika Krumwiede?

Näher kom­men, sam­meln, ver­mu­ten, deu­ten. Mehr ist nicht mög­lich. Und sich wun­dern und freuen über die­ses Menschenleben.

 Heinz Katt­ner

 

Das Jahr – die Zeit

 

Ges­tern ist eigent­lich morgen

was war morgen

was wird ges­tern sein

ich weiß es nicht

was ges­tern war – weiß ich

was mor­gen sein wird – weiß ich nicht

das stimmt, wenn ich an heute denke

ges­tern läuft in Jahr­tau­sende und überall

ist etwas von mir

mor­gen läuft in Jahr­tau­sende und überall

ist etwas von mir

jeder Tag ist klein wie eine Zelle und groß

wie das Universum

jeder Tag und ich bin in jedem Tag

unbe­kannt, immer wie­der unbekannt

 Erika Krum­wiede


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