Die Farbe Rot und das Alter

Natür­lich gehört es zur bio­gra­fi­schen Beson­der­hei­ten, dass Erika Krum­wiede eine über­all sicht­bare Vor­liebe für die Farbe Rot hatte. Wann sich diese Vor­liebe aus­prägte, lässt sich nicht erhe­ben. Aber alle, die Erika Krum­wiede kann­ten, kön­nen auf die Frage nach der Lieb­lings­farbe sofort eine Ant­wort geben. Wenn sie mit ihrem roten Auto vor­fuhr und mit roter Jacke aus­stieg, brachte sie ihre Unter­la­gen oft in einem roten Akten­kof­fer mit. Über­all in der Woh­nung und in ihrer Klei­dung fand diese Vor­liebe ihren Ausdruck.

Eine andere Farbe spielt neben rot eben­falls eine große Rolle. Man könnte sie mit Blick auf den Tep­pich­bo­den, mit dem ihre große Woh­nung aus­ge­legt war, „grund­le­gend“ nen­nen: lila. So exis­tie­ren als Kaf­fee­ser­vice zwei Exem­plare der in den sieb­zi­ger Jah­ren belieb­ten Melit­ta­se­rie: eines in rot, das andere in lila. Erika Krum­wiede hat in Far­ben gelebt. Diese leuch­ten­den Far­ben pas­sen zu ihrer meist lebens­fro­hen und lebens­be­ja­hen­den Hal­tung. In vie­len Gesprä­chen regt sie sich dar­über auf, dass ältere Men­schen sich selbst grau, braun oder schwarz klei­de­ten. Die Farb­frage und ihre Hal­tung neh­men auch ent­schei­den­den Ein­fluss auf die Art, wie sie die Semi­nare mit älte­ren Men­schen aus­rich­tet. (In der Aka­de­mie Sand­krug­hof, in der Kur­seel­sorge oder im Deut­schen Sozialwerk.)

Es fin­det sich keine Notiz oder kein Erklä­rung, die das Thema Farbe beson­ders her­vor­hebt. Offen­sicht­lich ist aber, dass sie auf kei­nen Fall eine Ver­bin­dung zwi­schen Lebens­al­ter und Far­ben, Klei­dung und Ver­hal­tens­wei­sen her­stel­len will. So ver­mei­det sie auch jeden Hin­weis auf ihr Alter. Fast alles ist in jedem Lebens­al­ter mög­lich, das ist ihre Posi­tion. In ihrem Gäs­te­buch zu ihrem 80.Geburtstag hat wohl jemand das Alter ver­merkt: es ist deut­lich geschwärzt wor­den und nicht mehr les­bar. In ihrem Buch „Der Alte, die Alte und die Gestan­de­nen“ lässt sich diese Hal­tung in lite­ra­ri­schen Minia­tu­ren nachlesen.

Zuneh­mend erschei­nen Krank­heit, Alter und Tod in ihrer Arbeit. Über Ter­mine sind zahl­rei­che Semi­nare und Aktio­nen zu die­sen The­men erfasst. Wie in ande­ren Fra­gen, so stellt sich Erika Krum­wiede auch hier gegen gesell­schaft­li­che Normen.

In einem Semi­nar, das sie gemein­sam mit Die­ter Zin­ßer im Sand­krug­hof lei­tet (16. – 27.6.1980 mit älte­ren Men­schen und mit jun­gen Theo­lo­gen) wird berich­tet, dass ein Archi­tekt im Ruhe­stand, wäh­rend er in einer fest­li­chen Abend­prä­sen­ta­tion Geige spielt, dort stirbt. Was vor­her nur theo­re­tisch erör­tert wurde, das setzt sie prak­tisch um: Der Tote wird nicht gleich den Bestat­tungs­an­ge­stell­ten über­ge­ben, son­dern im Haus auf­ge­bahrt und von allen Teil­neh­men­den in einer Feier ver­ab­schie­det. („Das Fest des Todes“ nennt sie den Abend.)

Auch ihre bedroh­li­che Krank­heit im Juni und Juli 1984 (Ope­ra­tion, medi­zi­ni­sche Behand­lun­gen und die Auf­ent­halte in Kur­häu­sern zur Reha­bi­li­ta­tion 1985, 1986, 1987) hält sie in einem umfang­rei­chen lite­ra­ri­schen Zyklus fest („Die wei­ßen Kit­tel“ -1984 – 1988).

Nur wenige Men­schen in ihrem per­sön­li­chen Umfeld wis­sen von ihrer Krank­heit. Selbst in ihrem Kalen­der, in den sie sonst in Stun­den und Minu­ten die Ter­mine ein­trägt, sind der Ope­ra­ti­ons­tag und der Kran­ken­haus­auf­ent­halt nicht ein­ge­tra­gen. Nur in einer Kladde erwähnt sie die Dia­gnose und das Kran­ken­haus. („Kran­ken­haus­auf­ent­halt vom 25.6. – 4.7.84 – Es ist ein Kar­zi­nom bei mir fest­ge­stellt wor­den. Ich habe mich sehr mit dem Ster­ben aus­ein­an­der­ge­setzt.“) Auch spä­ter spricht sie kaum über die Krank­heit. Sie ver­ge­wis­sert sich bei ihrer Freun­din, ob äußer­lich unter der Klei­dung von den Ope­ra­ti­ons­fol­gen nichts zu sehen ist.

 

Ich arbeite in mei­nem Beruf wie vor­her, als ich noch nichts wusste von alle­dem, was mein Kör­per sich aus­ge­dacht hat und die wei­ßen Kit­tel dazu. Ich freue mich, daß es so ist wie frü­her. Und es ist doch nicht so. Manch­mal möchte ich allen ins Gesicht schreien: „Ich habe eine tod­brin­gende Krank­heit, bedenkt das!“ Aber sie wis­sen ja nicht. Ein ander Mal bin ich froh, daß sie nicht wis­sen. Sie wäh­nen mich gesund und wun­dern sich über meine Kraft.“

 Erika Krumwiede

(Aus „Sech­zehn weiße Kit­tel und einer ohne“)

 

In einer frü­hen Fas­sung die­ses Zyklus schreibt sie neben den Titel hand­schrift­lich: „Im Krebs gebo­ren, mit Krebs gelebt, noch nicht gestorben“.

Betrach­tet man ihre Aktio­nen, Semi­nare und Texte danach bis zum erneu­ten Aus­bruch der Krank­heit sech­zehn Jahre spä­ter unter die­sem Aspekt, dann wirkt ihr Tun wie eine Hymne an das Leben.


Weiter: Das Material und das Denken