Projekt Gesprächsgruppen in der Waschküche

Erika Krum­wiede ent­wi­ckelt im Laufe ihrer freien Tätig­keit eine Kul­tur der Grup­pen­ge­sprä­che. Sie begin­nen mit einem Wochen­ende vom 14. bis 15.2. 1981 in der Aka­de­mie Sand­krug­hof und vom 16. bis 17.5. 1981 in Han­no­ver unter dem Stich­wort „Inter­es­sen­fin­dung“. Dazu lädt Erika Krum­wiede eine Gruppe von Men­schen ein und ver­sucht in den lan­gen Gesprä­chen her­aus­zu­fil­tern, wel­che The­men und Fra­gen für die Ein­zel­nen von Inter­esse sind.

Einen ähn­li­chen Pro­zess hat sie auch an den Anfang ande­rer Grup­pen­ak­ti­vi­tä­ten gestellt. Das heißt nicht, dass sie kein Thema oder Anlie­gen ein­bringt. Doch ihr Haupt­an­lie­gen ist Kom­mu­ni­ka­tion. Jeder und jede soll dabei vor­kom­men. Dar­aus gehen die Grup­pen „Wasch­kü­chen­ge­sprä­che“ her­vor, die nach dem Ende ihrer Lei­tungs­tä­tig­keit im Sand­krug­hof bei ihr in dem Raum neben der Garage stattfinden.

Vom 14.5. 1981 bis zum 20. August 2001 (ein hal­bes Jahr vor ihrem Tod), also über 20 Jahre, lie­gen von die­sen Gesprä­chen Pro­to­kolle vor. Aus den nach ihren Noti­zen, Unter­la­gen und Kalen­der­ein­trä­gen zusam­men­stell­ten Ter­mi­nen erge­ben sich allein über 500 Akti­vi­tä­ten in der „Wasch­kü­che“. Im Laufe der Jahre ver­än­dert sich die Zusam­men­set­zung der Teilnehmer.

Die Reli­gi­ons­phi­lo­so­phi­sche Gruppe besteht aus sie­ben Teil­neh­men­den. Sie beginnt im August 1981 und dau­ert bis zum 8.8.2001. 110 Tref­fen mit einer enor­men Band­breite an The­men fin­den sich in den Gesprächsprotokollen.

Spä­ter beginnt die Gruppe Denk­schule I vom 1.2.1987 bis zum 7.8.2001 mit 70 Tref­fen.  In ande­rer Zusam­men­set­zung wer­den von der Gruppe Denk­schule II 30 Tref­fen vom 11.5.1990 bis zum 20.8.2001 abgehalten.

Eine wei­tere Gruppe ruft sie mit dem Titel Schule der Wahr­neh­mung zusam­men. Diese Gruppe trifft sich seit dem 19.1.1990 elf Mal bis zum 22.7.1994 jeweils über zwei Tage. Danach wird eine neue Gruppe unter die­sem Thema zu den übli­chen Abend­ter­mi­nen noch über wei­tere 34 Mal protokolliert.

Andere Abende sind zunächst über­schrie­ben als „Tref­fen in der Wasch­kü­che“, spä­ter mit Wasch­kü­chen­ge­spräch. In die­ser Dis­kus­si­ons­reihe wech­seln die Teil­neh­men­den im Laufe der Jahre häu­fig. Es sind von Januar 1983 bis Dezem­ber 1993 offene Gesprächs­run­den, in denen die Gruppe dar­über spricht, was ihr the­ma­tisch wich­tig erscheint.

Eine Gesprächs­gruppe plant Erika Krum­wiede unter dem Titel „Nar­ren­schule“. Ideen, Texte und Mate­rial zu dem Thema sam­melt und ent­wi­ckelt sie von 1980 – 1982. Diese Gruppe kommt aber nicht über das Pla­nungs­sta­dium hin­aus, obwohl sie zahl­rei­che Gesprä­che bis 1990 mit Teil­neh­mern ande­rer Wasch­kü­chen­grup­pen dar­über führt. Und doch zei­gen die Unter­la­gen zu dem geplan­ten Pro­jekt, wie sich die Schwer­punkte in ihrer Arbeit ent­wi­ckelt haben. In einer frü­hen Notiz for­mu­liert sie drei Stich­worte für diese Gruppe:

  1. Nar­ren sind unabhängig
  2. der Wahr­heit verpflichtet
  3. Nischen im Sys­tem müs­sen gefun­den wer­den, um zu beunruhigen

 

Als Ver­weis nennt sie zwei Verse aus dem Neuen Testament:

„Nie­mand betrüge sich selbst. Wel­cher sich unter Euch dünkt, weise zu sein in die­ser Welt, der werde ein Narr, daß er möge weise sein.“

(1.Kor. 3, 18-19)

 

In ihrem inhalt­li­chen Kon­zept beruft sie sich oft auf Har­vey Cox, Das Fest der Nar­ren, und for­mu­liert einige Grund­sätze:

  • Die Schä­den der Gesell­schaft in den ein­zel­nen Men­schen ent­de­cken als Krank­heits­herd. Über die Zusam­men­hänge Kennt­nis haben.
  • Mög­lich­kei­ten der Hei­lung anbie­ten. Impuls­ge­ber sein.
  • Wahr­hei­ten offen und in Frei­heit sagen. Kon­flikte offen auf den Tisch legen.
  • Ent­lar­ven und den Spie­gel vorhalten.
  • Keine Sym­ptome hei­len wol­len, son­dern radi­ka­les Vorgehen.
  • Nicht den Men­schen ändern, son­dern die Situation.
  • Stärke als Schwä­che und Schwä­che als Stärke kennzeichnen.
  • Gewalt­lo­sig­keit ist Voraussetzung.
  • Mut, eige­nes Risiko einzugehen.
  • Der Narr stellt sich ganz zur Ver­fü­gung, Kraft füllt ihn aus, wo jemand wagt „ich bin“ zu sagen.
  • Hohe Angst­to­le­ranz ent­wi­ckeln. Aus­hal­ten, daß er geliebt, gehaßt, ver­lacht, gefürch­tet wird, weil er anders ist.
  • Es darf kei­ner gelang­weilt an dem Nar­ren vor­bei­ge­hen, ohne daß der Narr viel Kraft verschwendet.
  • Anders sein wol­len, als die ande­ren, um viel aus­hal­ten zu können.
  • Leicht und humor­voll bit­tere Wahr­hei­ten sagen.
  • Kennt­nisse über Stra­te­gien und Taktiken.
  • Am Rand sein und immer grö­ßere Wag­nisse eingehen.
  • Die Schule der Nar­ren ist der Ort, wo Unter­stüt­zung garan­tiert ist.

Wenn diese Gruppe auch nie gegrün­det wurde, so zei­gen die Über­le­gun­gen die Posi­tion, von der aus Erika Krum­wiede zu der Zeit ihre Akti­vi­tä­ten unter­nimmt. In einem Brief, den der Freund Diet­mar Becker im März 1990 aus Wien an Erika Krum­wiede schreibt, wird u.a. die Nar­ren­schule zum Thema:

In einem ´Kom­men­tar zum Neuen Tes­ta­ment aus Tal­mud und Midra­schim´ bin ich auf die jüdi­sche Cha­rak­te­ris­tik der Per­son Jesu und sei­ner Mut­ter Maria gesto­ßen. Ein Zerr­bild nicht nur aus christ­li­cher Sicht…Jesus wird dort als ´Wahn­sin­ni­ger´ und als ´Narr´ bezeichnet…

Das wäre ein Thema für die Nar­ren­schule. Ein Lern­ziel für die Nar­ren­schule: ler­nen, sich unbe­schwert an den Rän­dern der unter­schied­li­chen Dimen­sio­nen und Schwer­kraft­fel­der zu bewe­gen, Schwin­del­frei­heit ein­üben, wie die Berg­stei­ger, wie die Tau­ben und die Kirch­türme, die auch davon leben, daß sie schwin­del­frei sein können…”

Man könnte an die Tra­di­tion der bür­ger­li­chen Salons den­ken, wenn man die Art der Tref­fen in der Wasch­kü­che betrach­tet. Im Unter­schied dazu jedoch ist es kein kom­for­ta­bler Salon, son­dern ein geschmack­voll impro­vi­sier­ter Kel­ler­raum. Der Raum ist mit Pols­tern aus­ge­stat­tet. Regale mit Büchern, Spie­len, Aus­stel­lungs­ma­te­ria­lien, Objek­ten und Pla­ka­ten gefüllt. Die Teil­nahme an den Gesprä­chen ist nicht exklu­siv, son­dern nur von der Bereit­schaft zum offe­nen Dia­log bestimmt. Man­che Teil­neh­mer gehö­ren gleich­zei­tig meh­re­ren Grup­pen an.

Aus­gangs­punkt für die Gesprä­che sind oft aktu­elle The­men oder „Spe­zi­al­the­men“, die jemand kennt­nis­reich in die Gruppe bringt. Erika Krum­wiede gibt meist das Stich­wort oder ent­wi­ckelt Fra­gen aus der Dis­kus­sion her­aus. Daher fin­det sich in den Noti­zen häu­fig der Hin­weis: „Über diese Frage wol­len wir beim nächs­ten Mal sprechen.“

Allein die Namen der Grup­pen zei­gen die Grund­lage ihrer Gesprächs­hal­tung: Wahr­neh­men und Den­ken im Zusam­men­hang von Sinn­fra­gen. Dabei aber setzt sie eine Posi­tion vor­aus, die nicht mit kon­ven­tio­nel­len Mit­teln („Nar­ren­schule“) arbei­tet, son­dern sich der Außen­sei­ter­rolle bewusst ist.

 

Ein Narr

 

Man hat über mich gelacht

man hat mich ver­rückt genannt

 

Man hat mich geliebt

man hat mich gehaßt

 

Man hat mich beschimpft

man hat mir den Rücken gekehrt

man hat sich geär­gert, dass man nicht geblie­ben ist

man hat nicht geahnt, wie schön es wer­den würde

 

Man hat an mir geso­gen, um meine Milch zu kosten

Aber nur solange

wie sie nicht gefähr­lich war

solange wie sie einem schmeckte

solange wie man noch lachen konnte

und wei­ter leben so wie immer

 

Man hat nicht mit mir geweint

man hat nicht mit mir gelitten

das wäre zu viel für eine neue Welt

darum wird es immer die alte bleiben

 

Man glaubt nicht, daß ich es ernst meine

man lacht und vergisst

und die Welt bleibt wie sie immer war

es wäre töricht so zu wer­den wie der Narr

 

Man ahnt nichts von der Ruhe, die der Tod gibt

weil er uns nie verläßt

 

Man ahnt nicht wie Trä­nen wach­sen lassen

 

Man ahnt nichts von der Einsamkeit

die leicht ist wie der Tod

 

Man ahnt nicht

daß unter­wegs sein beschwingt macht

 

Ich tanze – ich lache – ich weine

heute bin ich ein ande­rer als morgen

und bin doch ich

 

Ich gehe Schritte, die ich nie gegan­gen bin

und weiß doch wie sie sein werden

sie wer­den sein wie ich

mir selbst unbekannt

 

Ich finde Räume, die unbe­wohnt sind

aber Platz für viele haben

Platz für eine neue Welt

 

Ich gaukle – ich lache – ich locke

es ist ernst gemeint

 

Ich liebe – ich hasse

und kann nicht ohne dich –

 

Ohne dich müßte ich meine Nar­ren­kappe absetzen

heute habe ich auch eine für dich

 Erika Krumwiede

 

Neben den the­ma­ti­schen Schwer­punk­ten bit­tet sie auch ein­zelne aus den Grup­pen, Impulse ein­zu­brin­gen. Das geschieht durch Vor­träge oder Lesun­gen. Auch kom­men gele­gent­lich Gäste in die Runde. Man­che Akti­vi­tä­ten von Erika Krum­wiede (Aktio­nen, Aus­stel­lun­gen, Insze­nie­run­gen) wer­den durch ein­zelne Teil­neh­mer aus den Waschküchen-Gruppen unterstützt.

Beharr­lich. Das ist eine der auf­fäl­li­gen Eigen­schaf­ten von Erika Krum­wiede. So erin­nert sie oft die Teil­neh­mer der Grup­pen durch einen Tele­fon­an­ruf an den nächs­ten Ter­min. Nicht sel­ten fängt die­ser Anruf mit der Bemer­kung an: „Du kommst doch?“ So hält sie die Grup­pen über lange Zeit­räume zusam­men. Dass das nur durch ihre Initia­tive mög­lich ist, zeigt sich daran, dass nach ihrem Tod diese Form der Zusam­men­künfte von den Teil­neh­mern der Grup­pen nicht fort­ge­führt wird.

Im Rück­blick wird auch sicht­bar, wie sehr das, was Erika Krum­wiede als Lek­türe beschäf­tigt, zum Gesprächs­thema wird. Wobei es kaum ein Thema gibt, das für sie nicht von Inter­esse sein konnte. Die Wasch­kü­chen­ge­sprä­che offen­ba­ren die enorme Weite, in der Erika Krum­wiede denkt und plant. Auf­fäl­lig ist dabei, dass man­che The­men ohne Kom­men­tar plötz­lich von ihr nicht mehr erwähnt wer­den. Vor allem zeich­net sich bei ihr ein Wider­stand gegen For­men und Inhalte ab, die gerade schick und in aller Munde sind.

Beson­ders kon­tro­vers zwi­schen eini­gen Frauen und Erika Krum­wiede wird das Frau­en­thema dis­ku­tiert. Vehe­ment wehrt sie sich z. B. gegen sprach­li­che Merk­male wie die Silbe „-in“ als weib­li­che Bezeich­nung. Das lehnt sie ab. „Die Frauen sind doch dumm, dass sie sich durch eine ange­hängte Silbe am männ­li­chen Begriff defi­nie­ren. Sie blei­ben so ein Anhäng­sel des Mannes.“

Ihre kri­ti­sche Sicht­weise auf fest­ge­fah­rene Mann-Frau-Rollen wird deut­lich in einer Notiz aus einem Semi­nar 1980:

Ein älte­res Ehe­paar, ver­mut­lich Mitte 70, hat an die­sem Semi­nar teil­ge­nom­men. Die Ehe­part­ner waren immer zusam­men in einer Gruppe. Jetzt sind sie ein­mal getrennt wor­den, haben in zwei ver­schie­de­nen Grup­pen gear­bei­tet. Der Mann war in sei­ner Arbeits­gruppe eher fer­tig als die Frau; er stellt sich vor den Raum, in dem seine Frau mit ande­ren musi­ziert und war­tet, bis seine Frau her­aus­kommt. Dann fragt er besorgt: Na, Mucke, hast Du auch alles gekonnt?“

Aber alle The­men, die ins Gespräch kom­men, zie­len bei ihr auf eine tie­fere Ebene. Man kann sagen, dass ihr eine über­brü­ckende Kon­ver­sa­tion über­haupt nicht ent­spricht. Damit – wie mit vie­len Unter­hal­tungs­for­men – kann sie nichts anfan­gen. Bei ihr steht unmit­tel­bar die Sinn­frage im Raum, auch wenn sie das so nicht benennt.


Weiter: Projekt Die imaginäre Reise