Sie parkt ihren roten Golf vor der Tür. Während sie aussteigt, ist hauptsächlich ihr Kopf zu sehen, denn ihr roter Mantel verschwindet vor dem Rot des Wagens. Vom Rücksitz nimmt sie einen roten Aktenkoffer. Als sie mich begrüßt glänzt ihr Lippenstift, als hätte sie – wie es Frauen in Filmen oft tun – eben noch mit der Zunge die Lippen berührt. Ihre Umarmung ist kräftig. Forsch fragt sie: „Wieviel Zeit haben wir? Ich muß viel mit dir besprechen.“ Ich antworte: „Ein ganzes Leben.“ Da lacht sie, und in ihrem Gesicht bleibt ein Lächeln zurück, das mich an ein junges Mädchen erinnert.
Wir sitzen uns gegenüber. Nach dem „Wie-geht-es-dir“ öffnet sie gleich den roten Koffer und nimmt eine dünne Mappe heraus. Aus der holt sie einen langen, schmalen Zettel. Ich kann eine Reihe von Wörtern und Sätzen darauf erkennen, jede Zeile ein Thema, eine Frage. „Ich will ein Buch schreiben. Es soll heißen: Tausend Romane auf den Straßen der Stadt. Ich habe K. schon gefragt. Der findet die Idee gut. Und D. sagt, das wäre ein verrücktes Projekt. Es sind ja immer nur kurze Texte, einige Zeilen. Was mir auffällt und so ungewöhnlich ist. Was hältst du davon?“ Die Stunden vergehen im Gespräch. Und sorgfältig macht sie hinter den Stichworten auf ihrer Liste einen Haken, wenn für sie ein Punkt erledigt ist. „Wir müssen alle ganz anders denken. Die Menschen haben keine Fantasie. Ich möchte bei mir in der Waschküche eine Schule der Narren einrichten. Du kommst doch?“
Dann steigt die rote Frau mit ihrem roten Koffer in ihr rotes Auto und fährt mit ihrer Liste davon.
Zwischentöne
Wenn eine Lebensgeschichte in Daten und Ereignissen textlich und fotografisch vor einem liegt, fängt man an, Schlüsse aus den Eindrücken zu ziehen. Und es gibt viel Material, das gedeutet und mit Merkmalen ausgestattet werden kann. Aber zu fassen ist damit ein Leben und eine Persönlichkeit nicht. Schon gar nicht Erika Krumwiede in ihrer Text-, Bild- und Ton-Material-Welt.
Die Gespräche mit den Freunden über das Leben von Erika Krumwiede, die in Videos und Tonbandaufnahmen vorliegen, zeigen deutliche Spuren: so ist sie erlebt worden. Aber wie war sie? Nur in den frühen und den aktuellen Hinterlassenschaften kann man sich ein Bild machen. Und dennoch wird es eine Differenz geben zwischen den erlebten Eindrücken und dem bewahrten und bewerteten Material. So wird es unterschiedliche Formen der Annäherung geben müssen.
Alle diejenigen Menschen aber, die Erika Krumwiede persönlich nicht erlebt haben, werden einen Eindruck aus der Fülle und der Anordnung des Materials gewinnen. Wie bei jedem „archivierten“ Lebenslauf, der doch auch vom subjektiven Moment der Sammler und Archivare abhängt. So sammeln wir die vielen Mosaiksteine dieses Lebens und fügen sie auf unterschiedliche Weise zu Bildern zusammen.
SelbstportrÄT
Immer wieder geben die Gesprächsnotizen und Texte Hinweise darauf, wie sich Erika Krumwiede selbst gesehen hat. Denn alle Projekte und Konzepte werden von intensiven Gesprächen mit Freundinnen und Freunden begleitet. Dabei geht es ihr um unmittelbare Reaktionen, wobei sie hauptsächlich die Personen erwähnt, die ihre Ideen bestätigt haben. Seltener sind Notizen, in denen eine schwerwiegende Entscheidung ambivalent im Gespräch bleibt. Das wird in folgender Notiz besonders deutlich:
Gespräch mit W. und I. am 26.7.81 in Lauenburg
W. meinte, dass ich unbedingt dazu stehen müsste, dass ich in einem Loch sitze. Ich habe ihm deutlich gemacht, dass dieses Bild nicht für mich passt, sondern dass ich mich in einer großen Leere befinde und dass mich das beunruhigt und langweilt. I. war über die Langeweile entsetzt. Sie empfand bei dem Bild Beunruhigung und Gelassenheit.
Ich sagte, dass mir aufgegangen sei, dass weder Ruhestand noch Arbeitslosigkeit mein Problem sei, sondern dass mir die Lebensaufgabe im Sandkrughof und in Wülfinghausen zerschlagen worden sei. Das konnten sie respektieren. Ich erzählte dann W. meine örtlichen Pläne: Börnestraße, Große Heide und Marklendorf. Er meinte, dass es sehr schade sei, dass ich den Gedanken an ein Haus aufgegeben hätte. I. meinte, das wären ihre eigenen Probleme. W. konnte sich aber auch meine Orte vorstellen. Die Aussprache hat mir sehr geholfen.
Während es in den meisten Gesprächen um Themen und Projekte geht, wird in dieser Notiz ein wesentlicher Wendepunkt im Leben von E. Krumwiede deutlich. Danach beginnt mit dem Standort Hannover ihre „selbständige“ Arbeit, die sie nur wenige Jahre später selbst in einem „Biografieblatt“ für ihre verschiedenen öffentlichen Projekte wie folgt formuliert:
Erika Krumwiede
Geboren in Hannover
Selbständig tätig in ihrer „Waschküche“ in Hannover: Gedanken, Vorstellungen, Ideen werden gewaschen, geschleudert, aufgehängt und von einem zum anderen weitergegeben zum Anziehen. Freiberuflich tätig als Pädagogin und Schriftstellerin. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Zeitungen – schreibt Prosa, Aphorismen, Lyrik, macht Objekt-Ausstellungen.
Mit dieser Selbstdarstellung beginnt die letzte Lebens- und Schaffenszeit, aus der eine enorme Fülle von Material vorliegt. Welche Lebensstationen haben zu dieser „Selbstdefinition“ beigetragen? Was prägt eine Biografie so entscheidend, dass man spätere Lebensphasen verständlich daraus ableiten kann?
Eine wichtige Station für sie ist der Ausbau des Dachgeschosses in ihrem Haus in der Börnestraße in Hannover. Sie verwirklicht ihre architektonischen Ideen in dieser ungewöhnlichen Wohnung. Und sie gestaltet die Einrichtung auf unverkennbar besondere Weise. „Sie richtet sich selbst ein.“ Dabei bekommen die kleinsten Details große Bedeutung. In einer akribischen Weise dokumentiert sie handschriftlich die Baumaßnahme vom 2.6. 1995 bis 30.9.1996.
Ein besonderes Einweihungsfest inszeniert sie am 17.10.1996. Es ist ein Begegnungsfest mit Freundinnen und Freunden und allen am Umbau beteiligten Menschen. Dabei präsentiert sie eine Dia-Reihe mit Bildern von ungewöhnlichen, architektonisch reizvollen Häusern und Wohnungen.
Städtebau, Architektur und Einrichtung gehören zu den sie bewegenden Themen. (Die Spur führt zum Vater, dem Architekten.) Solche Themen finden sich über viele Jahre in den Protokollen der Gesprächsgruppen. Wie sehr sie sich selbst mit dieser Wohnung identifiziert, zeigen ihre Stichworte zum geplanten Archiv: Anfangs stellt sie sich offenbar vor, die Wohnung würde ein begehbares Archiv. Diesen Gedanken hat sie in den folgenden Notizen nicht weiter entwickelt. (Ihre Wohnung ist auf Fotos und in einem Video-Film für das Archiv dokumentiert.)
Ich wohne hinter der Tür mit dem kleinen Spiegel. Alle
denken: ein Guckloch von draußen nach drinnen.
Einer kam lachenden Auges: Der kleine Spiegel ist
das schönste bei dir.
Irgendwann ist der Spiegel verschwunden. Es war wohl
einer da, der sehen wollte, ob etwas für ihn
zu holen sei. Er fand nur sich.
Erika Krumwiede
(Aus: Glaskopf, 1989)
Weiter: Ihre Themen, ihre Arbeitsweise