Es gibt 39 Kalender mit Daten und Terminen aus den Jahren 1962 - 2001. Darin aber keine üblichen Tagebuchnotizen. Die hätten in dem schmalen Taschen-Format „Eine Zeile pro Tag“ keinen Platz gehabt. Daneben steht im Regal ein Konvolut aus Notizbüchern. Auch hier keine der zu erwartenden Eintragungen. Sondern nur zeilenweise Begriffe und am Ende eine Zahl: Erika Krumwiede hat von 1949 - 2001 in diesen Büchern alle ihre Ausgaben erfasst. Sauber in Sütterlinschrift (wie fast alle ihre Notizen). Wir können also einen Vergleich der Preise von über 50 Jahren anstellen. Von Streichhölzern über Margarine bis zu Mahlzeiten in Restaurants. Welcher Forschungszweig in der Wirtschaft kann auf vergleichbares Material aus Einzelhaushalten zurückgreifen?
Das wirkliche Besondere in den hinterlassenen Notizen findet sich aber in einer Vielzahl von Aktenordnern. Mit Schreibmaschine geschriebene Texte, die unter verschiedenen Gesichtspunkten sortiert jeweils im Original und mit zwei Durchschlägen abgelegt wurden. Das Ordnungssystem lässt sich nicht erschließen. Also werden von den „Archivaren“ tausende von Blättern fortlaufend nach Datum neu sortiert. Dabei handelt es sich meist nicht um ganze DIN A 4-Seiten, sondern um nach Länge der Notiz abgeschnittene Papierstreifen; manchmal nur zwei oder drei Zentimeter lang mit nur einem Loch zum Abheften. Sparsam ist eines der Zentralwörter für die Verwendung von Material in der Arbeit von Erika Krumwiede.
Diese Schreibmaschinen-Notizen tragen nun ebenfalls keine Eigenschaften, die auf ein übliches Tagebuch anzuwenden wären. Ein besser zutreffender Begriff für diese Notizen aus den Jahren von Beginn ihrer Rentenzeit 1981 bis 2001: Lebensbuch. Bis auf eine Zwischenphase ist nun ihre „Waschküche“ ihr Lebens- und Arbeitsmittelpunkt. Das ist ein Raum hinter ihrer Garage im Kellergeschoss der Börnestraße 4. In diesem „Lebensbuch“ verfasst Erika Krumwiede Protokolle von allen Gesprächen mit Menschen. Zufällige Begegnungen, Telefongespräche, Treffen mit einzelnen Personen und Sitzungs- bzw. Gruppengespräche werden von ihr unmittelbar danach knapp bis ausführlich notiert. Immer steht ein Thema, eine Sache, ein gedankliches Anliegen oder ein künstlerisch-praktisches Vorhaben im Zentrum.
Erika Krumwiede geht in ihren Begegnungen mit allen Menschen eine Spur tiefer als der Alltag: auf dieser zweiten Ebene stehen immer die Voraussetzungen, die Möglichkeiten und die Grenzen menschlichen Zusammenlebens im Mittelpunkt. Man kann fast sagen, dass es ein Grundzug ihrer Kommunikation ist, das Wesentliche, die Sinnfragen aus unterschiedlichen Sichtweisen und in durchaus disparaten Formen ins Gespräch zu bringen. Sie hat sich für alles interessiert, was über den Alltag ungewöhnlich hinausging. Besonders natürlich für das Kuriose.
Dabei ist sie nicht Chronistin der Abläufe oder Vermittlerin der Positionen. Sie kann nicht neutral sein. Und sie will es auch nicht. Ihre wertenden Kommentare zeigen ihren Standpunkt oder ihre suchende Fragebewegung. Und das beharrlich. Nur über die Sache finden sich dann auch Gefühlsaussagen in den Notizen. Und dort lässt sich auch ablesen, wie sehr sie registriert, welche Meinungen und Wertungen andere Menschen von ihr, ihren Ideen und Aktivitäten äußern.
Notizbücher beginnt Erika Krumwiede immer wieder. In verschiedenen Formaten seit 1981. Auch hier sind oft viele Seiten beschrieben. Bei einigen hören die Einträge allerdings schon nach wenigen Seiten auf. Zufälliger und fragmentarischer sind die Notizen, oft Ideen oder Andeutung von Erlebnissen. Später dann der Übergang zu literarischen Notizen. Über 400 Seiten Textversuche, die Erika Krumwiede nummeriert und später in der Schreibmaschine weiterbearbeitet hat. Mitte der achtziger Jahre werden die Buchnotizen weniger. Dafür arbeitet sie thematisch ihre Erlebnisse in ihre Gesprächsnotizen (s.o.) ein. Und beginnt Schreibprojekte zyklischer Art, die dann auch zu der ersten Veröffentlichung („Glaskopf“) führen.
15. Nisan* (Passion)
In meinem Garten steht ein Kirschbaum.
Er blüht.
Ich atme den Duft ein.
Die Bienen summen.
Nur die Vogelscheuche im Baum
stört mich.
Die Kirschen sind doch noch gar
nicht reif.
Erika Krumwiede
(*Eine Anspielung auf den Frühjahrsmonat,
den 15. April nach dem bürgerlichen jüdischen Kalender.)