Was ist denn neu an dem von Erika Krumwiede entwickelten „experimentellen Erzählen“ z. B. gegenüber dem einfachen Erzählen biblischer Geschichten?
Das Experiment besteht vor allem aus der kreativen Geduld der Erzählerin. Denn der Erzählstoff ist bekannt, nicht aber die individuellen Reaktionen und möglichen Variationen der beteiligten Zuhörenden. (Etliche Jahre später lassen sich Ähnlichkeiten entdecken in der Form des Bibliologs.) Erika Krumwiede hat ihre Erzählform im März 1985 selbst beschrieben:
„Experimentelles Erzählen habe ich entworfen, um ein neues Übungsfeld für den Erzähler und die Zuhörer zu entwickeln. Der Erzähler erzählt (nicht vorlesen) eine biblische oder auch eine andere Geschichte möglichst wortgetreu. Danach sprechen die Zuhörer über diese Geschichte. Sie teilen sich gegenseitig ihre Meinungen, ihr Verstehen, ihre Emotionen, ihre Interpretationen mit. Der Gesprächsleiter eröffnet dieses Gespräch. Der Erzähler schweigt zu allen Äußerungen. Wenn er den Eindruck hat, ausreichend Impulse durch das Gespräch empfangen zu haben, meldet er sich und erzählt die Geschichte wieder. Die empfangenen Impulse baut er ein. Dadurch wird die Geschichte verändert, wird aber nicht sehr viel länger werden; auch wird die Geschichte immer erkennbar bleiben.
Nach dem zweiten Erzählen findet wieder ein Gespräch unter den Zuhörern statt. Dieser Wechsel kann beliebig oft wiederholt werden. Das Übungsfeld sieht für den Erzähler so aus, dass er intensiv zuhören muß, seine eigene Meinung ist nicht gefragt. Er öffnet sich den Impulsen, die von den Zuhörern kommen. Seine gedankliche Beweglichkeit ist so hoch, daß er die Impulse in die Geschichte einfügen kann, ohne daß er lange Umwege gehen oder große Ausweitungen der Geschichte vornehmen muß. Bei jedem neuen Erzählen wird sie verändert. Durch hohe Konzentration der Vorstellung, durch intensives Zuhören, durch Einlassen auf Interpretationen der Zuhörer, durch Verzicht auf eigene Interpretationen erzählt er immer wieder die Geschichte neu. Er wird mit der Sprache konzentriert umgehen, ohne sie arm zu machen. Jedes Wort erhält ein eigenen Gewicht und Farbigkeit.
Für den Zuhörer heißt das immer wieder neue Hören der Geschichte, Konfrontation mit den eigenen Interpretationen. Er wird seine Äußerungen prüfen, er wird sie vertiefen, aber auch ändern und wieder ganz neu hören können. Nicht nur der Erzähler, auch der Zuhörer wird intensiv zuhören, um seine eigenen Meinungen sich gegenübergestellt zu hören und erneuten Kontakt zu ihnen zu finden. Durch eine immer wieder veränderte Geschichte wird sie sich ihm weit öffnen. Er wird Impulse empfangen, die neu und überraschend für ihn sind. Eine intensive, lange Beschäftigung mit der Geschichte findet statt, auch durch die Gespräche zwischen dem Erzählten. Die sonst oft zurückgehaltenen Gedanken werden zur Sprache gebracht. Jeder Zuhörer steht sich selbst gegenüber.“ (Loccum, März 1985).
Aus den Materialien lassen sich 27 Veranstaltungen erfassen, die mit dieser Erzählform hauptsächlich im Zeitraum von 1983 bis 1985 (einzelne noch bis 1996) veranstaltet wurden. Sicherlich sind es mehr. Dazu kommen die nicht gezählten Vorbereitungs- und Nachgespräche. Kinder, Konfirmanden, Erwachsene im Beruf und alte Menschen - ohne Festlegung auf Lebensalter oder Bildungsstatus arbeitet sie mit sehr verschiedenen Gruppen. Das wird u.a. an zwei Auszügen aus Gesprächsnotizen deutlich.
1. „Es waren etwa 15 Personen bei dem Experimentellen Erzählen anwesend. Es waren nicht alles Gemeindeglieder. Ein älterer Herr kam lächelnd herein und sagte, er hätte es in der Zeitung gelesen und fand die Ankündigung so interessant, dass er Lust hatte zu kommen. Ich habe die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt.…Es war eine rege Beteiligung. Alle haben sich bedankt und fanden es sehr interessant. Frau L. fragte gleich, wo man so etwas lernen kann. Der ältere Herr hat seinen Namen nicht genannt, hat aber am nächsten Tag die „Waschküche“ besichtigt“. (11.1.1985)
2. Über das Gespräch mit einem Theologen:„…Ich sagte ihm, daß ich Schwierigkeiten hätte mit seiner neuen Frömmigkeit. Er gab mir Erklärungen, die aber für mich nicht einleuchtend waren. Wir machten am nächsten Morgen einen Spaziergang, wo ich ihm von meiner Methode berichtete und von meiner Einstellung. Er war sehr angetan von dem allen. Er schlug vor, daß ich mal ein Seminar auf Band aufnehmen sollte und wir es dann gemeinsam ausarbeiten wollen. …Wir wollen vielleicht daraus eine Veröffentlichung machen…Ich entdeckte, daß ich der Vertreter Gottes in den Seminaren bin und zwar nicht als hierarchische Struktur, sondern auf der Ebene der Partnerschaft. Das hat mich eigentlich sehr froh gemacht.“ (17.4.1984)
Das Experimentelle Erzählen entwickelt sich zu einem neuen Übungsfeld für Erzähler und Zuhörer. Wobei Erika Krumwiede selbst in einer Notiz betont, dass es sich um keine Methode handelt, die eine bestimmte Deutung zum Ziel hat oder didaktisch absichtsvoll plant. Wenn sie vom Experimentellen Erzählen als Methode spricht, dann meint sie damit die offene Haltung und die festen Regeln. Denn sie besteht auf „wortgetreuem Erzählen“ am Anfang und einem bestimmten Ablauf zwischen Erzähler und Zuhörenden, wobei damit vor allem die offene Haltung gemeint ist. Alles im Prozess ist möglich und wird in den Erzählvorgang hereingenommen.
Das Experimentelle Erzählen verlagert den Schwerpunkt und stellt die Zuhörenden ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Manchmal wird der Erzählstoff am Anfang auch vom Moderator vorgelesen und später vom Erzähler erzählt. In einer Notiz finden sich Hinweise auf Bibelstellen, die als Ausgangspunkt häufiger erzählt werden: Markus 16, Matthäus 8, Matthäus 25, Lukas 10, Johannes 5.
Für ein Pastoralkolleg vom 1. bis 5.6.1987 notiert Erika Krumwiede den Ablauf und gibt dabei Anweisungen für zwei Moderatoren vor. In den Notizen ist ihre Grundhaltung formuliert, die sich auf viele ihrer Projekte und Unternehmungen anwenden lässt: „…unbefangen erzählen, eigentlich kann es jeder, häufig sind wir nur zu vernünftig“.
In einer anderen Notiz aus dem März 1985 beschreibt Erika Krumwiede verschiedene Erlebnisse mit ihrer Erzählform und macht deutlich, was ihr als „Ergebnis“ wichtig ist.
„Menschen sitzen im Kreis. Sie hören aufmerksam zu. Eine Geschichte wird erzählt. Sie kennen sie wohl alle. Sie haben sie schon gelesen. Auch vorgelesen wurde sie ihnen. Jetzt wird sie erzählt, so wie sie aufgezeichnet ist. Nachdenklich hören sie zu: Kennen wir sie wirklich, die Geschichte? Sie ist ja ärgerlich, die Geschichte von den anvertrauten Pfunden, wo einer nur e i n Pfund bekommt. Oder die Geschichte vom barmherzigen Samariter, wo die Geistlichkeit vorbeigeht. Oder die Geschichte vom Kranken am Teich Bethesda, wo Jesus herausfordert, selbst zu handeln: ´Stehe auf und nimm dein Bett und gehe hin.´
Beim Hin- und Herreden zwischen der oder jener Geschichte begreifen die Zuhörer: ´Ich bin mitten drin in der Geschichte. Ich bin einer von denen, die vorkommen´.
Kirchentag. Wir sitzen im Zelt, nicht nur Deutsche. Einer fragt vor sich hin: ´Tue ich etwas mit dem einen Pfund, das ich bekommen habe, für den Frieden unter uns, oder ist ein Pfund noch zu viel, und ich vergrabe es?´
Ein ander Mal in der Kirche zwischen vielen Bildern, die da hängen zum Ansehen: ´Wer liegt da eigentlich am Wegrand halbtot? Ist das Jesus oder bin ich das etwa und muß mir helfen lassen von einem, den ich verachte und auch noch danke sagen´? Ich möchte aufhören zu erzählen. Ich bin erschöpft: immer wieder die Geschichte erzählen in wenigen Worten, mit dem Vielen, was die Zuhörer sagen. Empörung: ´Aufhören jetzt noch nicht, jetzt fängt es doch erst an´! Aber über eine Stunde ist schon vergangen.
Wieder ein ander Mal in einem großen Raum, mit Menschen, die die Bibel unterrichten….Eine junge Frau sagt: ´Ich bin immer aggressiver geworden. Warum wird die Geschichte immer wieder erzählt? Was ist denn noch falsch an dem, was wir sagen? Wann haben wir das richtige Ziel erreicht´? Dann sieht sie nachdenklich und still vor sich hin und sagt leise: ´Es ist schlimm, daß ich so denke´. Eine andere sagt vorsichtig: ´Ich möchte dieses Erzählen einmal in meiner Klasse versuchen, aber sie machen oft so obszöne Bemerkungen. Ich habe Angst´.
Auch die obszönen Bemerkungen erzähle ich mit und sie werden sich selbst sehen, sage ich.“
Warum hat Erika Krumwiede diese Erzählform entwickelt? Der Anfang eines Textes nach einer Veranstaltung auf dem Kirchentag 1983 in Hannover gibt Antwort. Auch hier ist es ein Widerstand gegen herkömmliches didaktisches Erzählen. Dieses „Kleinmachende“ - wie jede Form der Instrumentalisierung - ärgert sie. Aus dem Widerstand entwickelt sie Gegenkonzepte.
„Als ich ein Kind war, hörte ich biblische Geschichten. Sie wurden erzählt so wie heute. Man nennt das: den biblischen Text aktuell machen. Behalten habe ich nur: Irgendwo stand ein kleines Haus mit Blumen in den gardinenbehangenen Fenstern, ein kleiner Garten und ein kleiner Zaun drumherum. Es fehlten nur die Gartenzwerge, die gab es wohl noch nicht. Vielleicht wohnten so Maria und Martha. Was hat das alles mit Jesus zu tun? Ich weiß es nicht.
Ich möchte die Geschichten in der Bibel anders erzählen. Ich möchte, daß kleine und große kluge Leute hinterher sagen können: dabei verwandle ich mich wie eine Raupe in einen Schmetterling. Ich werde ganz anders.
Und ich fing an zu erzählen. Wir saßen in einem Zelt. Es war aufgeschlagen, weil Kirchentag war. So nennen die Leute das Treffen unendlich vieler Christen. Wir saßen wohl zu dreißig. Für uns gerade richtig, für den Kirchentag fast gar nichts. Ich erzählte die Geschichte von den Talenten so kurz wie sie in der Bibel steht. Aber sie war gar nicht kurz. Unendlich viele Fragen waren da bei den dreißig, die da saßen. ´Warum hat der eine nur ein Talent bekommen? Wo doch die anderen viel mehr bekamen. Ist die Ungerechtigkeit zu verstehen´?
Ich sagte nichts mehr. Ich hörte nur noch zu. Dann kam der Augenblick, wo mich traf, was gesagt wurde. Und ich erzählte wieder diese Geschichte von den Talenten und jetzt auch mit der Ungerechtigkeit an diesem einen, der nur ein Talent besaß. Dann wieder diese Fragen von denen, die zuhörten: ´muß man diesem nicht helfen in seiner Verletztheit und Angst? Muß man diese Ungerechtigkeit nicht aus der Welt schaffen? Muß man nicht alles gleichmäßig verteilen´? Und ich erzählte diese Geschichte wieder mit dem, was gefragt wurde: der Hoffnung, daß alle gleich bekommen. Die Geschichte wird nicht länger trotz des immer wieder Erzählens. Sie ermüdet nicht. Sie lässt nicht mehr in Ruhe. Sie verwandelt sich nicht in aktuelle Bilder. Sie kriecht in uns hinein und hier fragt sie, ob der mit einem Talent seine Chance versäumt. Er kann verdoppeln wie die beiden anderen auch, egal ob es ein, zwei oder fünf Talente sind. Sorgt er nicht für den Tod, weil er vergräbt? Er vergräbt etwas Lebendiges.
Ich erschrecke: all diese Fragen nehmen kein Ende und bleiben in jedem Einzelnen stecken, als ob er der mit dem einen Talent ist.
Und ich erzähle, erzähle, erzähle immer wieder diese Geschichte mit all dem, was gefragt wird. Es ist, als ob wir langsam anders werden. Das kleine Haus mit dem fehlenden Gartenzwerg ist nicht mehr da. Und die Geschichte ist nicht nur gestern, vorgestern oder vor 2000 Jahren erzählt worden und hat es nicht nötig, heute ´aktuell´ gesagt zu werden. Trotzdem sitzt sie mitten drin – heute – und ist immer wieder da, auch als wir das Zelt schon lange verlassen haben.“ (14.8.1983)
Nach der erfolgreichen Präsentation ihrer Erzählform auf dem Evangelischen Kirchentag im „Literaturpark am Lister Turm“ (am 10.6.1983) findet diese Veranstaltung im Jahr darauf im „Kulturpark am Lister Turm“ in einem Literaturzelt noch einmal statt (22.6.1984).
Über ihre Erfahrungen mit diesem Erzählen hat sie im Laufe der Zeit viele Gesprächsnotizen verfasst. Darin ist von der großen Zustimmung zu lesen, aber auch von Unverständnis. Reaktionen, die Erika Krumwiede immer wieder beschäftigten.
Nach einem Seminar mit Lehrern notiert sie: „In der Aussprache wurde gefragt, was ich damit wollte, wo ich die Teilnehmer hinführen wollte. Irgendwann wurde die Ebene der eigenen Betroffenheit verlassen und reflektiert. Da konnte ich nicht weiter erzählen. Auch die Textkritik machte vieles kaputt. Ich versuchte am Abend noch deutlich zu machen, was eigentlich der Sinn der Sache ist. Aber ich glaube, es ist nicht verstanden worden. Durch eine Äußerung von Herrn H. ist mir das deutlich geworden. Am nächsten Tag habe ich ihn noch einmal darauf angesprochen. Auch da hat er nicht verstanden, weil er immer wieder fragte, wo ich sie hätte hinführen wollen…Ich weiß nicht, ob er das als Lehrer überhaupt verstehen kann…“ (3.5.1985)
Schon 1985 weckt das Experimentelle Erzählen das Interesse, darüber systematisch zu arbeiten. In einigen Gesprächsnotizen wird von Examens- und Diplomarbeiten über diese Erzählform berichtet. Zwei dieser Arbeiten finden sich im Nachlass. Eine mit theologischem und eine mit pädagogischem Schwerpunkt. Außerdem möchten einige Teilnehmende diesen Ansatz an Multiplikatoren weitergeben, bzw. Fortbildungsinstitute laden Erika Krumwiede zum „Erzählen“ ein. Zu einem Seminar kommt auch ein Rundfunkredakteur für einen Sendemitschnitt.
Im Rückblick ist zu vermuten, dass diese Erzählform wohl ein Ausdruck der Persönlichkeit von Erika Krumwiede ist und daher von ihr unnachahmlich praktiziert wird. In einem Brief an eine Pädagogin, die über das Experimentelle Erzählen eine Arbeit geschrieben hat, macht Erika Krumwiede deutlich, dass es sich bei diesem Erzählen um eine von ihr entwickelte Form handelt:
„…vielen Dank, daß ich Ihre Arbeit bekommen durfte. Wie ich Ihnen schon sagte, gefällt mir die Arbeit sehr gut…Ich möchte aber sehr auf meine Urheberrechte hinweisen. Experimentelles Erzählen ist ein Titel von mir, müsste also jedes Mal groß geschrieben werden. Seite 4 und 5 sind fast wörtlich von mir abgeschrieben…Das Experimentelle Erzählen ist von mir erfunden und entwickelt worden. Falls Sie an eine Veröffentlichung denken, was ich durchaus unterstützen würde, bitte ich, diese Dinge zu berücksichtigen.“
Es ist nicht bekannt, dass die Form in dieser radikalen und angreifbaren Weise von anderen fortgesetzt wurde.
Das Chaos will anerkannt, will gelebt sein, ehe es sich
in eine neue Ordnung bringen läßt.
Erika Krumwiede