Das Schreiben: Notizbücher und Kladden

Notiz­bü­cher und Klad­den fül­len ein gan­zes Regalbrett. Einige frühe aus Kin­der­ta­gen sind Seite für Seite in sau­be­rer Süt­ter­lin­schrift mit Gedich­ten, Lie­dern, Ver­sen, Sinn­sprü­chen und Bibel­zi­ta­ten bis zum Ende gefüllt. Andere, ähn­lich wie Poe­sie­bü­cher, mit Sprü­chen von Ver­wand­ten, Leh­rern und Freun­din­nen manch­mal nur bis zur Hälfte oder weni­ger beschrieben.

Alle diese Hefte oder Bücher sind nicht datiert. Nur an der Schrift gibt es einen Anhalts­punkt zur Lebens­zeit. Die frü­heste Kladde zeigt erste Bunt­stift­zeich­nun­gen. Auf Sei­ten dazwi­schen offen­bar vom Vater vor­bild­lich gezeich­nete Gesichts­par­tien, Füße und Hände. Bei eini­gen Lieder- oder Gebets­hef­ten hat Erika Krum­wiede zum Schluss ein Inhalts­ver­zeich­nis ange­legt. Es gibt etli­che selbst gestal­tete Büch­lein mit sorg­fäl­ti­gen Zeich­nun­gen u.a. mit dem „Son­nen­ge­sang von Franz von Assisi“.

Auch in vie­len die­ser frü­hen Hefte ist die beson­dere Zunei­gung zu Vater und Mut­ter ables­bar. Und die zahl­rei­chen Gruß- und Spruch­kar­ten machen ein Bild der Fröm­mig­keit in die­ser Zeit sichtbar.

Das Schrei­ben:

Wei­ter im Tagebuch –

Gestal­te­tes Erleben

1945, da war sie bereits 26 Jahre alt, schreibt sie zum „Wie­gen­feste des Vaters“ einen län­ge­ren hym­ni­schen Text. In den hier zitier­ten Sät­zen zeigt sich die bis dahin durch­ge­hende Linie einer von Pathos und Idea­li­sie­rung getra­ge­nen Lebens­sicht: „Ich darf heim aus der geschäf­ti­gen Arbeit in die häus­li­che Stille, stille Betrieb­sam­keit, darum still, weil sie gebor­gen ist. …An dem Wie­gen­feste dür­fen mein Vater und ich einen Gang in Zwei­sam­keit machen. Wir beide gehen den Weg durch unsere Hei­mat… Wir haben geöff­nete Augen, die die Schön­heit suchen und fin­den dür­fen. So ein­sam sind die bei­den Men­schen auf dem Weg, und doch dür­fen sie in Zwei­sam­keit ein Wun­der der Natur schauen.“

Eben­falls 1945 fin­den sich im Tage­buch drei Gedichte in Vers­maß und Reim. Offen­sicht­lich von einem Auf­ent­halt an der Ost­see: „Erin­ne­rung der Ferien mit mei­nem lie­ben Schwes­ter­lein. Auch in den Gedich­ten bleibt der pathe­ti­sche Grund­ton. Aller­dings ist das Motiv des Stur­mes mit dem des Kamp­fes ver­bun­den. Aus har­mo­ni­schen Träu­me­reien trägt die Auto­rin eine Freude auch in den auf­kom­men­den Sturm und lässt ein Gedicht so enden: „Ich lieg und jauchze und gebe mich hin / dem Sturm und den Wogen, all´s was ich bin. Die Form und die Hal­tung in die­sen Gedich­ten ent­spre­chen den Gedich­ten und Lie­dern, die sie in gro­ßer Zahl in ihre Hefte abge­schrie­ben hat.

Ver­gleich­bar gestal­tete Gedichte fin­den sich spä­ter nicht mehr in den zahl­rei­chen hin­ter­las­se­nen Texten.

Ein wei­te­rer Text aus dem Tage­buch von 1945 stammt aus der Zeit ihrer ers­ten Berufs­tä­tig­keit. Ab Sep­tem­ber 1944 arbei­tet Erika Krum­wiede als Gemein­de­hel­fe­rin in der Andreas-Gemeinde in Hil­des­heim. Sie ist dort als Schwes­ter aus der Frau­en­mis­sion Mal­che e.V tätig. Nach den ver­schie­de­nen Aus­bil­dungs­sta­tio­nen ist das ihre erste Anstel­lung. Sie schreibt eine Epi­sode über eine Unter­richts­stunde in Reli­gion mit Kin­dern ver­mut­lich im Grund­schul­al­ter oder jün­ger. Der Text ist mit Dia­lo­gen im bekann­ten har­mo­ni­schen Sprach­duk­tus ver­fasst und zeigt ihre große Zunei­gung zu den Kindern:

1945

Heute darf ich mei­nen lie­ben Klei­nen Unter­richt geben. Schon von Wei­tem höre ich: „Die Leh­re­rin kommt, die Leh­re­rin kommt!“ Mit flin­ken Bein­chen lau­fen sie neben mei­nem Rad her. Dann sit­zen sie vor mir auf den Bän­ken mit klei­nen brau­nen und blon­den Zöpf­chen. Fröh­lich wird gesun­gen: „Ei du Kleine, warum singst Du nicht?“ Ein ver­schäm­tes Gucken. „Jetzt singst du fein allein.“ Mit drol­li­ger Ernst­haf­tig­keit singt sie den Vers her. Nun die Geschichte. Viele braune und blaue runde Kin­der­au­gen sehen mich gespannt und ernst an. Nicht ein Mucks. Dann dür­fen sie wie­der­er­zäh­len. Wie die Fin­ger­chen flie­gen: „O, o, o, ich habe auch schon mal so etwas erlebt.“

„Sagt, wie hat Gott den Men­schen gemacht?“ Die kleine Gisela zieht ihre Miene in Fal­ten. Ihre gro­ßen Augen schauen mich an. Sie lächelt ver­schmitzt. Gott hat einen Klum­pen Erde genom­men und hat ihn dar­aus gerollt.“ „Sagt, wißt ihr noch, wie der schöne große See hieß?“ Kein Fin­ger ist da. Es ist zu schwer. Halt, ein Klei­nes mit roten Bäck­chen, ein süßes Apfel­ge­sicht­chen, sagt wie selbst­ver­ständ­lich: „Gene­za­reth.“ „fein. Ute, du hast’s recht behal­ten.“ Ver­schämt lächelt es. Ihr lie­ben Klei­nen, euch hab ich lieb.

Obwohl sich einige Auf­zeich­nun­gen von 1938 bis 1946 im Nach­lass fin­den, über­rascht es doch, dass es kei­nen Hin­weis auf die Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus gibt. Auch der Krieg bleibt völ­lig uner­wähnt. (Allein in der schon erwähn­ten didak­ti­schen Arbeit „Advent” wird von einem Vater im Krieg gespro­chen und im Ver­gleich dazu auch vom „Füh­rer”.) Die Fotos von den ver­schie­de­nen Aus­bil­dungs­or­ten unter­stüt­zen den Ein­druck, dass die poli­ti­schen Ereig­nisse „vor den Türen“ blieben.

Eine erste „Trü­bung“ des har­mo­ni­schen Welt­bil­des for­mu­liert sie 1945. Sie schreibt in ihrem Tage­buch an Schwes­ter G. eine Lie­bes­er­klä­rung an die Hei­mat: „ Hei­mat, Hei­mat! Kennst du den Klang? Alles liegt in ihm ver­bor­gen, alles, was der Mensch, was ich besitze. Mein Herz hängt an mei­ner Hei­mat, an jedem Eck­chen, jedem Stück. Durch alle Zim­mer möchte ich gehen. Die Sonne leuch­tet her­ein, licht­gol­den umflu­tet wird alles. Ich möchte schauen über die Blu­men an den Fens­tern hin, son­nen­schim­mernd; sit­zen mit Mut­ter im heim­li­chen Eck­chen des Win­ter­gar­tens voll Sonne. Möchte vor den Bil­dern ste­hen, von mei­nes Vaters Hand gemalt, mäch­tig, groß und hell, über die lie­ben gedie­ge­nen Möbel strei­chen, die zu mir gehö­ren seit Kind. Ich gehe die Treppe hin­auf, sitze in mei­nem Zim­mer, klein, vol­ler Blu­men, mein ganz per­sön­lich Eigen.“ Zum Schluss des Tex­tes fin­det sich diese Wende: „…Mein Vater mit sei­nem Schön­heits­sinn hat uns diese Hei­mat geschenkt, die wir, die ich heiß liebe.

Und nun? – Fremde Men­schen haben sie uns genom­men, unsere Hei­mat. Wir sind ent­wur­zelt, hei­mat­los. Bit­te­rer Weg. Weißt du, was das heißt?“

Hin­weise auf Daten und Fak­ten feh­len. Noch deut­li­cher wird diese andere Wahr­neh­mungs­weise in einem län­ge­ren Tage­buch­ein­trag, der mit Bad Pyr­mont, im Mai 1946 über­schrie­ben ist. Wie in vor­he­ri­gen Tex­ten auch, beginnt sie hier mit einer hym­ni­schen Natur­schil­de­rung. Die ist aber nicht mehr allein eine idyl­li­sche Schil­de­rung, son­dern viel mehr ein Sehn­suchts­bild, gegen das die Auto­rin ihre inne­ren Kämpfe, ihre see­li­sche Ver­zweif­lung abgrenzt. „Der Mensch nimmt das Bild der Wahr­heit als ein Geschenk von Gott, indem auch er seine Hände fal­tet in stil­lem Gebet. Aber in sei­nem Her­zen weint etwas… Der Weg ist so dun­kel vor ihm, dass ihn ein Grauen packt. Er schüt­telt sich, wie in Kälte. ´Ich kann nicht wei­ter gehen´.“

In dem Text ringt der Mensch mit dem Wunsch, ande­ren in kör­per­li­cher Not zu hel­fen. „Vor ihm steht dro­hend der Weg der ein­sa­men und zer­schmet­tern­den Ver­ant­wor­tung für die Tau­sen­den.“ Es geht ihr um die Kraft, die Ver­ant­wor­tung in ihrem Beruf zu tra­gen. Zum Schluss des Tex­tes steht ein inne­rer Dia­log, der noch ein­mal die Fun­da­mente der Fröm­mig­keit im Leben von Erika Krum­wiede zeigt: „Ich gehe zugrunde an der Ver­ant­wor­tung. Ich möchte sie abwer­fen und sehe doch kei­nen Aus­weg.“ „Du gehst zugrunde, weil du sie Gott nicht tra­gen lässt. Wirf sie auf ihn, er trägt sie dir.“ „Herr, erbarme dich mein.“


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