Die Form, Die Archividee

Erika Krum­wiede. Eine Bio­gra­fie? Chro­no­lo­gisch von Geburt bis Tod? Wäre das ihre Vor­stel­lung einer Lebens­er­in­ne­rung gewe­sen? Sicher­lich nicht. Alle nach­ge­las­se­nen Mate­ria­lien und Schrif­ten ver­wei­sen auf das Gegen­teil: Frag­ment scheint bei aller Ten­denz zum Sam­meln, Erfas­sen und Bewah­ren ihr bestim­men­des Prin­zip zu sein. Nichts ist abge­schlos­sen. Keine Idee, kein Pro­jekt, kein Werk so aus­ge­führt, dass sich dar­aus ein abschlie­ßen­des Ergeb­nis for­mu­lie­ren lässt. Auch nach been­de­ten Aus­stel­lun­gen arbei­tet sie mit dem Mate­rial wei­ter. Und bricht diese Arbeit manch­mal uner­klärt ab. Immer bewegt sie sich in Pro­zes­sen. Sie beginnt z. B. mit gro­ßer Begeis­te­rung ein Thema in einer Gesprächs­runde. Nach eini­gen Wochen hat sich in ihr oder in der Gruppe ein ande­rer Aspekt ent­wi­ckelt. Dann gibt sie eine neue The­ma­tik vor. So grün­det sie auch im Laufe der Zeit neue Gesprächs­grup­pen zu neuen Themen.

Sie lebt allein ohne eine dau­ernde Part­ner­schaft. Immer geht sie mit ihrer gan­zen Kraft in die Sache. Ihre Lebensaufgabe.

Ist genau betrach­tet nicht jeder Lebens­lauf eine Samm­lung von Frag­men­ten, die im Rück­blick auf einen Faden gezo­gen wer­den? Und dann erschei­nen sie als ein Kon­ti­nuum. Als hätte sich eine Sta­tion kon­se­quent aus einer vor­her­ge­hen­den erge­ben. Wie das Den­ken sich gern die Lebens­ab­läufe sinn­voll zurecht­legt. Genau hin­se­hen und das Unvoll­stän­dige beja­hen. Nicht voll­en­det in einer zeit­li­chen Ent­wick­lung von Geburt bis Tod. Die Daten, Fak­ten und The­men las­sen sich in chro­no­lo­gi­scher Abfolge in einer Zeit­leiste erfas­sen. Als Über­blick und Ein­blick mit the­ma­ti­schen und bio­gra­fi­schen Ver­wei­sen. Aber ein Lebens­weg besteht nur in bio­gra­fi­schen Fragmenten.

Daher wird die­ser Ein­blick in die Bio­gra­fie von Erika Krum­wiede nicht allein der Chro­no­lo­gie fol­gen. Im Wech­sel geht es um Daten und um Schwer­punkte ihrer Tätig­keit, die in Pro­jek­ten beschrie­ben wer­den. Die umfas­sen manch­mal sehr lange Zeit­räume, so dass die Fort­set­zung des Lebens­lau­fes auch eine Rück­kehr zu älte­ren Ereig­nis­sen sein kann. Die­ser Wech­sel – unter­bro­chen auch durch lite­ra­ri­sche Zitate – macht hof­fent­lich auch das Lesen leich­ter. Und kommt dem sehr nahe, wie Erika Krum­wiede gedacht, gear­bei­tet, gelebt hat.

Die Archi­v­i­dee

Sie kann auf eine unver­gleich­li­che Weise direkte Fra­gen stel­len. Und diese sind meist so all­ge­mein wie gleich­zei­tig kom­plex. „Was soll denn nun aus mei­ner gan­zen Arbeit wer­den? Die vie­len Pro­jekte, die Texte, meine Ideen? Was soll ich denn damit machen? Das muß doch Zukunft haben.“ Die bei­den Freunde, die sie 1999 so fragt, tref­fen sich danach zu Über­le­gun­gen mit Erika Krum­wiede. Erika, du bist in vie­lem, was du machst, son­der­bar, viel­leicht auf eine Weise ver­rückt. Zumin­dest kurios. Fest­stel­lun­gen, ver­suchte Beschrei­bung. Und zugleich der Aus­gangs­punkt für ein fol­gen­rei­ches „unge­fäh­res“ Unternehmen.

Die Idee, ein kurio­ses Archiv zu pla­nen, setzt Erika Krum­wiede in Bewe­gung. Kaum eine Woche ohne ein Tele­fo­nat mit den bei­den. Stich­wort­lis­ten und Fra­gen fol­gen. Eine Arbeits­tei­lung soll Auf­ga­ben beschrei­ben. Sie selbst will Ideen und Impulse noch zu ver­wirk­li­chen­der Pro­jekte ent­wi­ckeln, einen Plan vom Archiv ent­wer­fen. Vie­len Bekann­ten, Freun­den und Ver­wand­ten erzählt sie von dem Vor­ha­ben. Sie will von ande­ren eine Ein­schät­zung („Wie fin­dest du das“? fragt sie oft.). Aber sie zeigt so viel Ener­gie und Ein­satz, dass die Befrag­ten mer­ken: sie ist von der Idee so begeis­tert, dass sie eigent­lich nur eine Bestä­ti­gung hören will. Zwei­fel, Kri­tik oder Wider­spruch füh­ren zu Ver­stim­mun­gen. Sie hat sich ent­schie­den. In die­sem Fall für das Archiv. Sie sagt: „Das Archiv ist mein Kind.“

Doch dann plötz­lich: Eine sichere Dia­gnose! Sie ver­sucht, die ver­blei­bende Zeit durch die Inten­si­tät zu ver­grö­ßern. Wie sie es in man­chen Tex­ten in meta­pho­ri­scher Weis­heit behaup­tet hat. Bald las­sen die Kräfte nach. Aber nicht ihre Vor­stel­lung von Zukunft. Und als es auf das Ende zugeht und ein treuer Freund sie besucht, dreht sie sich zur Wand und sagt: „ Ich werde nicht ster­ben. Ich werde die Werke des Herrn ver­kün­di­gen.“ Trotz? Zuver­sicht? Glaube? Gottvertrauen?

Am 9. März 2002 stirbt sie. Sie hin­ter­lässt ihren letz­ten Wil­len. Aber ihren Plan hat sie nicht mehr kon­zi­pie­ren kön­nen. Und damit beginnt das Aben­teuer der Archivarbeit.

Es ist kein Nach­lass eines Stars, einer berühm­ten Per­sön­lich­keit. Ist sie außer­halb ihrer Pro­jekte in der Öffent­lich­keit bekannt? Wer außer der Fami­lie, außer den Freun­din­nen und Freun­den und Mit­ar­bei­ten­den ver­bin­det heute noch etwas mit ihrem Namen? Was ist das Beson­dere an die­sem Men­schen Erika Krumwiede?

Könnte ein Motiv nicht gerade darin zu sehen sein, die Sta­tio­nen eines wech­sel­vol­len und unge­wöhn­li­chen Men­schen­le­bens in einer Bio­gra­fie zu wür­di­gen? Ohne Sen­sa­tio­nen oder Medi­en­be­ach­tung. Stell­ver­tre­tend für so viele, deren Leben für andere Men­schen wich­tig war und nicht ver­filmt wor­den ist. Und kurios, d.h. beson­ders war sie den­noch. Der Archiv­name ist berech­tigt. Also den Ver­such wagen, aus der unglaub­li­chen Fülle des hin­ter­las­se­nen Mate­ri­als und den Erin­ne­run­gen von nahe ste­hen­den Men­schen das Wir­ken die­ser beson­de­ren Per­sön­lich­keit nachzuzeichnen.


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