Und wieder das Schreiben: Die Autorin Erika Krumwiede

Ihre Tage­bü­cher, ihre Noti­zen, die Gesprächs­auf­zeich­nun­gen und die Stich­wort­zet­tel, das ist eine Form des Schrei­bens. Dane­ben aber ent­wi­ckeln sich bei Erika Krum­wiede neue For­men. Aus der prak­ti­schen Arbeit ent­ste­hen gegen Ende der fünf­zi­ger Jahre dra­ma­ti­sche Texte, Stü­cke für Lai­en­spiel­grup­pen. Das erste Manu­skript ist datiert mit Okto­ber 1958, „Die rote Tür“. März 1959 schreibt sie: „Das Spiel vom Leben oder vom Tod – Schat­ten­bil­der“. In die­ser Zeit ist diese auf­fäl­lige Ver­än­de­rung in ihren Aus­drucks­for­men zu erken­nen. Wenn auch eine pathe­ti­sche Grund­hal­tung geblie­ben ist, so fehlt plötz­lich die Natu­ridylle, und die manch­mal kli­schee­haft wir­kende Spra­che hat eher einer rea­lis­ti­schen Platz gemacht. In der Zeit als Leh­re­rin in der Frau­en­mis­sion Mal­che haben ver­mut­lich Ereig­nisse und Erkennt­nisse die­sen Wan­del bewirkt. Eine ein­schnei­dende Zeit, ohne die sich die spä­tere expe­ri­men­telle und unan­ge­passte Akti­vi­tät nicht erklä­ren ließe.

Mit ihrer neuen Tätig­keit im Lan­des­ju­gend­pfarr­amt bekom­men die Texte erneut eine andere Form. Es sind über­wie­gend „Sach­t­exte“, die sich auf ihre päd­ago­gi­schen Arbeits­fel­der bezie­hen. In ihnen steht das Exem­pla­ri­sche, das Zei­gen und Machen von Pro­zes­sen und Aktio­nen im Vor­der­grund. Die erste grö­ßere Publi­ka­tion ist „Gemeinde kon­kret“ (1970).

Danach folgt „zb“, eine Ver­öf­fent­li­chung, die als Arbeitshilfen-Reihe geplant wurde. Das erste Heft erscheint 1972 mit dem Schwer­punkt „Aus­stel­lun­gen“. Die zweite Aus­gabe wird 1973 mit dem Schwer­punkt „Fan­ta­sie“ her­aus­ge­ge­ben. Ein Dop­pel­heft ¾ setzt 1974 das Thema „Fan­ta­sie“ fort und erwei­tert es um krea­tive Aspekte der Per­sön­lich­keit. 1975 folgt Heft 5 zum Thema „Vom Motiv zum Pro­dukt“. Es folgt 1975 eine Mate­ri­al­samm­lung aus Tex­ten und Fotos.

Man könnte beglei­tend zu ihren Aktio­nen auch Lebens­pha­sen in ihren Tex­ten fin­den. Die Bil­dungs­ar­beit mit Kin­dern, mit Jugend­li­chen, mit jun­gen Erwach­se­nen, mit Men­schen der Lebens­mitte und schließ­lich spä­ter mit älte­ren und alten Men­schen brin­gen sprach­li­che Reflexe in unter­schied­li­chen Prä­sen­ta­ti­ons­for­men zum Ausdruck.

Dazu gehö­ren auch etli­che Refe­rate, die sie für ver­schie­dene Ein­rich­tun­gen aus­ar­bei­tet. Eng mit ihren Semi­na­ren und mit ihrer Lebens­phase ver­knüpft schreibt sie 1980 ein umfang­rei­ches Refe­rat „Wei­ter­bil­dung für ältere Men­schen“. Dort räumt sie dem Umgang mit dem Tod in der Gesell­schaft eine län­gere kri­ti­sche Pas­sage ein. Die­ses Thema bekommt in den fol­gen­den Jah­ren in Tex­ten und Pro­jek­ten ein gro­ßes Gewicht; beson­ders nach ihrer Krebs­ope­ra­tion 1984. Ihre Posi­tion wird im fol­gen­den Aus­zug deut­lich:

„Der Tod ist der stän­dige Beglei­ter jeden Lebens von Anfang an. Das ist ein bedroh­li­cher Fak­tor. Geburt und Tod sind die Angel­punkte. Dazwi­schen bewegt sich das Leben, das an die­sen Punk­ten auf­ge­hängt ist. Die Zeit, die dazwi­schen liegt, steht zur Ver­fü­gung. Wird sie los­ge­löst von die­sen bei­den Punk­ten gelebt? Zumin­dest muß ange­nom­men wer­den, daß der Angel­punkt Tod nicht bedacht wird. Ist es über­haupt mög­lich, los­ge­löst von die­sem Angel­punkt das Dazwi­schen­lie­gende zu leben? Ist der Tod dadurch nicht ins Leben ein­ge­bro­chen und erreicht, daß es nicht gelebt wer­den kann?

Der Mensch weiß nichts und will nichts wis­sen vom Tod. Durch diese Unge­wiss­heit hat die­ser unge­hin­dert Zutritt ins Leben und ver­an­lasst, daß der Mensch nicht begreift, was Leben heißt und es darum auch nicht leben kann. Zwi­schen den bei­den Angel­punk­ten b e w e g t sich das Leben, ohne einen von ihnen ist keine Bewe­gung mög­lich. Ohne Bewe­gung aber ist Still­stand, ist Tod. Diese vie­len Fra­gen for­dern Aus­ein­an­der­set­zung, um zu wis­sen, was Leben heißt. Sie for­dern Infor­ma­tio­nen, sie for­dern Bil­dung, sie for­dern Kon­fron­ta­tion mit dem Tod.“

Mit dem Wech­sel in eine andere Auf­gabe ent­ste­hen seit 1979 Auf­zeich­nun­gen zu ver­schie­de­nen The­men. Aus eini­gen die­ser Noti­zen, die nicht mehr direkt auf Pro­jekte oder päd­ago­gi­sche Pro­zesse bezo­gen sind, ent­wi­ckelt Erika Krum­wiede die Form der lite­ra­ri­schen Minia­tur. Oft sind es Denk­an­stöße aus den ver­schie­de­nen Gesprächs­grup­pen, die zu Tex­ten füh­ren. Einige Texte ent­ste­hen zu Semi­na­ren, zu Aus­stel­lun­gen oder Aktio­nen und wer­den von kor­re­spon­die­ren­den Fotos begleitet.

Immer mehr aber drängt es Erika Krum­wiede zu lite­ra­ri­schen Tex­ten. Viele Gesprächs­no­ti­zen zei­gen, dass sie sich immer wie­der bei Freun­den ver­si­chert, ob sich denn diese Art des Schrei­bens lohnt.

Ihre erste lite­ra­ri­sche Buch­ver­öf­fent­li­chung erscheint 1989 im Ver­lag Rich­ter in Mün­chen unter dem Titel „Gla­s­kopf – Minia­tu­ren“. In die­sen Tex­ten zeigt sich eine ein­fa­che, klare Spra­che, die oft­mals ver­blüf­fende Erkennt­nis frei­setzt. Diese Ver­blüf­fung trifft auf alle künst­le­ri­schen Pro­jekte und the­ma­ti­schen Aktio­nen zu. Nun in kom­pri­mier­ter Form in ihren Texten.

Das Beson­dere bei Erika Krum­wiede besteht in der Art der Wahr­neh­mung von Ein­drü­cken. Bereits hier geschieht diese im Den­ken und in der Sprach­ge­stalt sicht­bare Form aus Nai­vi­tät und Weis­heit. Daher wir­ken ihre Texte so ein­fach und zei­gen gleich­zei­tig einen ande­ren Zugang zur Rea­li­tät. Man­ches Motiv wird zunächst schlicht benannt, um sich dann im Fort­gang des Tex­tes zu ver­wan­deln oder zu ver­ber­gen. Kaum ein Text, der frag­los bleibt.

In einer Kri­tik in der Evan­ge­li­schen Zei­tung ist über ihren Band Gla­s­kopf zu lesen:

„Erika Krum­wiede hat eine schöne und zugleich grau­same Art zu schrei­ben. Schön sind die Spra­che, die Sym­bole, die Bil­der. Grau­sam ist, dass sie uns nicht raus­las­sen aus ihrer Wahr­heit. Die kur­zen Texte ver­lan­gen etwas vom Leser, man kann sie nicht ein­fach so dahin­le­sen, son­dern muß bereit sein, sich aus­ein­an­der­zu­set­zen, sich zu stellen.“

Hat sich Erika Krum­wiede in frü­he­ren Akti­vi­tä­ten immer beglei­tende visu­elle oder akus­ti­sche Medien gesucht oder gestal­tet, ver­traut sie jetzt mehr der Spra­che. Immer aber lässt sich die Arbeit an Tex­ten in ihrer Bio­gra­fie zurück­ver­fol­gen. Die ver­schie­de­nen Fas­sun­gen der Texte im Laufe der Jahre zei­gen, dass man­che zunächst als „Gebrauchs­texte“ für den Ein­satz im Semi­nar geschrie­ben wur­den (u.a. „Eine kleine Katze“). In den Bear­bei­tun­gen erfolgt dann die Reduk­tion, manch­mal ver­bun­den mit dem Weg­fall der deut­li­chen The­men oder „Objekte“. Sie kon­zen­triert ihren Satz­bau und ent­wi­ckelt dabei ihren oben genann­ten Schwer­punkt: die Pro­sa­mi­nia­tu­ren. Das zeigt sich auch bei den Text­ge­sprä­chen über die Manu­skripte, die Heinz Katt­ner als Lek­tor für die ers­ten bei­den Bücher mit ihr führt.

Mit dem Ver­lag W. Rich­ter, vor allem mit des­sen Öffent­lich­keits­wir­kung ist Erika Krum­wiede unzu­frie­den. Der Buchab­satz ist gering, Nur durch den Ver­kauf bei Lesun­gen und ande­ren Anläs­sen kann sie das Buch selbst ver­brei­ten. Daher ent­schließt sie sich für einen eige­nen Ver­lag. Am 4. April 1991 grün­det sie in Han­no­ver den Ver­lag „Gla­s­kopf“. Die wei­te­ren Ver­öf­fent­li­chun­gen erfol­gen bis zum Jahr 2000 in die­sem Verlag.

Kon­se­quent arbei­tet sie an der Aus­ein­an­der­set­zung mit ihren Denk- und Erleb­nis­mus­tern. Daher ent­steht ihre zweite lite­ra­ri­sche Ver­öf­fent­li­chung aus der jah­re­lan­gen Begeg­nung mit älte­ren Men­schen in Semi­na­ren und aus der Wahr­neh­mung des eige­nen Alterns. Die Pro­sa­mi­nia­tu­ren „Der Alte, die Alte und die Gestan­de­nen“ erschei­nen 1992 als Buch im neu gegründeten„Glaskopf Verlag“.

Auch hier trifft die vor­her bezeich­nete Eigen­art der Texte zu. Erika Krum­wiede hat nun ihren eige­nen Ver­trieb für ihre Ver­öf­fent­li­chung über­nom­men. Aller­dings wer­den ihre Bücher in der lite­ra­ri­schen Öffent­lich­keit kaum wahr­ge­nom­men. Zu wenig passt diese Lite­ra­tur in die Kate­go­rie der bel­le­tris­ti­schen Rezeption.

Einige Men­schen aber rea­gie­ren nach dem Lesen auf die­sen Band. In einem mit G.B. signier­ten Brief vom 11.1.1993 heißt es u.a.:

„Ich kenne Erika Krum­wiede nicht. Aber wenn mich mein Emp­fin­den beim Lesen ihres Buches nicht täuscht, dann ist sie genau eine von denen, die in die­ser Kursprosa wie lebende Per­sön­lich­kei­ten vor mich hin­tre­ten, vol­ler Empö­rung, vol­ler Aggres­sion, aber auch vol­ler Selbst­si­cher­heit gegen­über denen, die sie „die Gestan­de­nen“ nennt….Mit den Mit­teln der Satire, der Über­trei­bung und der unver­blüm­ten Dar­stel­lung des Alterns for­dert sie eine Reak­tion ihrer eben­falls alt­ge­wor­de­nen Leser her­aus, die dann etwa so lau­ten könnte: Ich lasse mich nicht unterkriegen!“

Für einige Jahre wird Qued­lin­burg kon­zep­tio­nell und per­sön­lich ein Schwer­punkt in der Aus­rich­tung von Erika Krum­wiede. Der mor­bide Ein­druck mit­tel­al­ter­li­cher Häu­ser und Stra­ßen­züge bringt sie zu einer Form foto­gra­fi­scher und text­li­cher Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ästhe­tik des Ver­falls und des­sen zu bewah­ren­der eigen­tüm­li­cher Aura. Der Abriss- und Neu­bau­ideo­lo­gie setzt sie den Band „Tau­send Jahre Sei­ten­bli­cke“ (1994) entgegen.

 

Der Früh­ling dau­ert tau­send Jahre.

Man­che Knos­pen sind nur zu ahnen.

Andere sind so dick, dass sie bald aufplatzen.

Noch andere fal­len ein­fach ab.

Und man­che wer­den abge­ris­sen und zertreten.

 

Erika Krum­wiede

(Aus: Tau­send Jahre Sei­ten­bli­cke, 1994)

 

Im Inhalt und in der Prä­sen­ta­tion: die unge­wohnte Sicht­weise. Die­ser wie auch der vierte und fünfte Band erschei­nen im Gla­s­kopf Verlag.

In der vier­ten Ver­öf­fent­li­chung ist der Aus­gangs­punkt eine Instal­la­tion in der Ruine der Aegi­di­en­kir­che in Han­no­ver. Fra­gen zum Thema „Tod und Auf­er­ste­hung“ sind dort in Objek­ten und Ton­col­la­gen dar­ge­stellt. Die Besu­cher wer­den in die Aus­stel­lung mit Äuße­run­gen ein­be­zo­gen. Diese Äuße­run­gen (in der Aus­stel­lung auf Fähn­chen gedruckt und an 110 Kup­fer­roh­ren in Baum­schei­ben gesteckt) sind ein Teil des Buches. Ein ande­rer Teil besteht aus Fotos. Und dazu auch Texte von Erika Krumwiede.

 

Grab­steine schla­gen aus

Gedan­ken von Men­schen ste­hen auf

Gedan­ken von Men­schen wach­sen hervor

ein Laby­rinth von Gedanken

Auf­er­ste­hung

 Erika Krumwiede

 

Dar­aus wird der Band „Die Ruine steht auf“ (1998), dem eine Ton-CD beige­legt ist.

Mit ihrem letz­ten Buch wagt Erika Krum­wiede erneut eine andere Form: Das Buch „Kenne ich mich“ (2001, Gla­s­kopf Ver­lag) besteht aus Fra­gen für jeden Tag und ist rund gestal­tet in der Größe einer CD.

Bei der Feier zu ihrem 80. Geburts­tag kom­men im Juli 1999 viele Gäste in ihr Wochen­end­häus­chen. In den Büschen und an Bäu­men hän­gen Kar­ten mit Fra­gen. Diese Fra­gen fin­den sich in dem letz­ten Buch wie­der. Auch hier ist also der „Vor­läu­fer“ des Buches eine Aktion.

Im run­den Buch sind die ein­zel­nen Blät­ter mit je einer Frage am obe­ren Ende durch eine Niete gehal­ten und kön­nen blät­ternd oder auf­fä­chernd gele­sen wer­den. Auf dem blauen Titel klebt ein run­der Papier­spie­gel, in den der Leser zuerst bli­cken muss. Von allen Ver­öf­fent­li­chun­gen scheint diese am deut­lichs­ten die ver­schie­de­nen Ein- und Aus­drucks­wege von Erika Krum­wiede zu bün­deln. Ein­fa­che Fra­gen, kurios und manch­mal schein­bar belang­los. Aber schnell tref­fen sie die Tiefe und ver­wan­deln das Den­ken, das dann ein Über-sich-selbst-Denken wird.

 

Wie fühle ich mich,

wenn ich an mei­nen Tod

denke…

 

Warum schäme ich mich,

wenn ich weine…

 

Die im Nach­lass gefun­de­nen Texte set­zen die­ses Prin­zip der Über­ra­schung durch die Per­spek­tive fort. Alle lite­ra­ri­schen Texte, die bis­her ver­öf­fent­lich­ten und die im Nach­lass gefun­de­nen und lek­t­o­rier­ten, sind in einer Gesamt­aus­gabe zur Aus­stel­lung 2012 enthalten.

 

Kleine Auf­zeich­nun­gen

Die kleins­ten sind mir am liebs­ten. In ihnen haben Vor­komm­nisse und Erschei­nun­gen über­schau­bare Plätze. Dort fin­den sie noch zu ein­leuch­ten­dem Zusam­men­hang. Blick und Ver­stand bewerk­stel­li­gen das. Von allen Sei­ten scheint es her­ein. Der Gast bewegt sich bei­nah frei, wie auf offe­ner Ter­rasse über dem Meer, von Licht­split­tern über Was­ser umtanzt.

Hier finde ich noch den güns­ti­gen Augen­blick, einen Stoff zu bear­bei­ten. Sonst nir­gends. Oder einen ein­zel­nen Strei­fen, irgendwo ver­lo­ren im durch­setz­ten Bestand der Materien…

 Diet­mar Becker
(Freund und Gesprächs­part­ner von Erika Krum­wiede, über Jahrzehnte)


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