(Eine Auswahl)
1000 Romane auf den Straßen der Stadt (Auszüge)
Auf dem Fahrrad kommt mir eine Mutter entgegen mit Zwillingen. Eins sitzt vorne im Körbchen, das andere hinten im Körbchen. Sie sind bunt angezogen wie Schmetterlinge im Frühjahr. Die Mutter zwischen ihnen ist ein dunkler Fleck.
Ein Buchladen mit tausend und abertausend Büchern. Da kommt einer mit weißen Haaren forsch, voller Kraft. Er sagt zu dem kleinen Kind an seiner Hand: „Hier gibt es so viele Bücher, dass du blöd wirst.“ Ich lache: „Ja, das stimmt.“ Überrascht lacht er zurück.
Im Fischladen habe ich zu Mittag gegessen. „Darf ich abräumen? Hat es Ihnen geschmeckt?“ „Wollen Sie es wirklich wissen oder fragen Sie nur so?“ „Nur einfach so.“
Nach Weihnachten stehen wieder lauter nackte Schaufensterpuppen im Fenster. Die Frauen sind nackt, die Männer wieder angezogen. Der Vater sagt zu seinen Kindern: „Die Frauen werden zu Ostern angezogen.“
Ein verrosteter Mann geht mitten durch eine verrostete Frau. Die Frau tut dasselbe schon lange.
Heute wird in der Stadt gestreikt. Schon nachmittags sind die Straßenbahnschienen verrostet. So schnell geht das.
Es ist nicht zu fassen. Ich kann einfach nichts lesen, wo nicht „in“ erscheint. Kleingeschrieben- Großgeschrieben. Aber immer ein Anhängsel. Wer hat sich das nur ausgedacht? Vielleicht sogar die Männer. Wir sollen Anhängsel bleiben. Warum merken die Frauen das nicht? Sie verteidigen sogar das Anhängsel. Ich bin kein Anhängsel und will auf keinen Fall eins sein! Ohne Anhängsel haben wir die Chance, eine neue Struktur zu entwickeln. Das können nur wir. „In“ ist nicht mehr „In“.
Das Jahr – die Zeit
Gestern ist eigentlich morgen
was war morgen
was wird gestern sein
ich weiß es nicht
was gestern war – weiß ich
was morgen sein wird – weiß ich nicht
das stimmt, wenn ich an heute denke
gestern läuft in Jahrtausende und überall
ist etwas von mir
jeder Tag ist klein wie eine Zelle und groß
wie das Universum
jeder Tag und ich bin in jedem Tag
unbekannt, immer wieder unbekannt
Tränen
Gestern war ich traurig
die Leute waren so groß
sie sahen nichts
eins, noch unfähig zu reden
noch unfähig zu gehen
sah mich an
seine winzigen Finger tasteten
vorsichtig in meinem Gesicht
sie hinterließen Spuren
die ich lange spürte
ohne sie zu entfernen
Grün
lange Grannen, weich wie Flaum
der Wind streicht darüber hin
wie eine Hand, die über Samt streicht
Bewegen ohne Kraft - ohne Willen
kaum spürbar - wie lange Wellen
ein Spiel ohne Seufzer
Dieses Genießen ist weltvergessen
setzt sich fort und kommt wieder
auf kleinem Raum
grenzenlos wie ein nie
gesprochenes Wort
Flüstern
„Ein feines altes Geschirr steht in einem feinen alten Schrank. Beide sind kostbar und schön. So kostbar und schön, dass niemand wagt, sie zu berühren. Generationen schon haben das durchsichtige Porzellan nur ehrfurchtsvoll von weitem betrachtet. Niemand kennt die Geschichte und könnte es doch so leicht erfahren. Die Tassen und Teller sagen es.
Vor diesem kostbaren Schrank und diesem kostbaren Geschirr sitzt eine feine alte Frau in einem feinen alten Stuhl. Sie sitzt lang so und flüstert vor sich hin. Die anderen denken, dass sie träumt oder woanders ist. Die feine alte Frau aber spricht die Geschichte des feinen alten Geschirrs. Sie wundert sich, dass die anderen die Geschichte nicht kennen, denn sie steht ja auf jeder Tasse, auf jedem Teller mit durchsichtigen Buchstaben. Eine merkwürdige Geschichte.
Niemand spricht die feine alte Frau an, wenn sie vor dem kostbaren und schönen Geschirr sitzt. Sie ist dann so weit fort. Irgendwann stirbt die feine alte Frau. Sie hat bestimmt, dass das kostbare und schöne Geschirr in ihren Sarg gelegt und mit ihr begraben wird.”
Spiegel
„Ich wohne hinter der Tür mit dem kleinen Spiegel. Alle denken: ein Guckloch von draußen nach drinnen.
Einer kam lachenden Auges: Der kleine Spiegel ist das Schönste bei dir.
Irgendwann ist der Spiegel verschwunden. Es war wohl einer da, der sehen wollte, ob etwas für ihn zu holen sei. Er fand nur sich.”
Frühling
„Der Frühling dauert tausend Jahre.
Manche Knospen sind nur zu ahnen.
Andere sind so dick, dass sie bald aufplatzen.
Noch andere fallen einfach ab.
Und manche werden abgerissen und zertreten.”
Kuriose Sätze und Aphorismen
(Eine Auswahl aus Zettel-Sprüchen zur Ausstellung „20 Jahre Medienzentrale“ vom 21.4. – 3.5.1996 im Amt für Gemeindedienst)
Große Höhen sind leicht vernebelt
•
Schnee von gestern ist heute warm
•
Wind macht biegsam
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Leitplanken verhindern die freie Entfaltung
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Ein Baum fällt nicht so leicht wie zehn
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An meiner Hand zähle ich immer sechs Finger
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Nichtraucher tragen ein rotes Kreuz
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Der Erwachsene ist kleiner als das Kind
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Hohe Geschwindigkeit lockt zu nicht-verbaler Kommunikation
•
Zwei Beine sind zu wenig für den Menschen
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Rüben sind dreckig und süß
•
Hetze braucht viel Zeit
•
Krücken behindern das Gehen
•
Räder sind keine Mittel zur Fortbewegung
(Eine Auswahl aus einer Sammlung unveröffentlichter Aphorismen)
Technik ist der Abgrund der den Himmel verspricht
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Globalisierung macht die Erde zu einem Stecknadelkopf
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Medien tanzen den Rhythmus der Macht
•
Sauberkeit setzt Schmutz voraus
•
Luft holen kann tödlich sein
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Geld beißt ins Gehirn
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Wir reisen ohne den Geruch anzunehmen
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Krieg ist eine gewaltsame Entblößung des Menschen
•
Verschwendung ist der Pakt mit der Armut
•
Geld wird von Lügen bewohnt
•
Gewinn ohne Kenntnis bedeutet Verlust
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Faulheit diktiert Erfindungen
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Der Schöpfer Mensch ist ein Nichts neben dem Gänseblümchen
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Enthaltsamkeit macht mager
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Skrupel haben zwei Gesichter
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Schadenfreude zeichnet ein grinsendes Gesicht
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Recht haben wollen und sich entschuldigen sind Geschwister, die sich nicht mögen
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Verteidigung ohne Kenntnis endet in Blamage
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Im Intellekt ertrinken heißt: keine Visionen haben
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Halbe Wahrheiten sind schlimmer als tausend Lügen
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Ein Geheimnis bewahren bedeutet Verzicht
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Erziehung ist Sache der Kinder in jeder Hinsicht
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Medien saugen Blut aus Menschen und bieten es als Getränk an
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Schleichwege enden im Irrgarten
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„Den Tod gefunden“ – Habe ich ihn denn gesucht
Der alte Mann und seine Kinder
Er hat wirklich gelebt, vorgestern. Nicht nur äußerlich, auch innerlich. Merkwürdig, manchmal hat er auch übermorgen gelebt. Angefangen hat es mit seiner eigenen Geburt. Erst dann hat er dafür gesorgt, daß nach ihm geboren würde. Viel später als es sonst üblich war. Er fand sie eben nicht. Ein Bild gab es bei ihm innen, das war so schön. Gab es sie hier überhaupt auf Erden? Und dann war „Sie“ da, fast aus Versehen. Hinter der Tür hörte er Namen. Die könnte es sein, die oder nicht. Der Name kam ihm häßlich vor. Er ahmte ihn nach, ironisch, fast albern und lachte dabei. Die Tür öffnete sich und das Bild war Wirklichkeit. Schön wie eine geschlossene Rose ohne Duft. Ihr Name war der häßliche. Er vergaß es. Lachend öffnete er Blütenblatt um Blütenblatt, bis sie duftete.
Ein kleines Haus und ein großer Garten, das war es. Nun kam „Sie“ dazu. Das ging eine Weile so weiter. Aber dann kamen die Kinder. Bei jedem wurde das Dach abgenommen vom Haus und ein Größeres darauf gesetzt. Derweil schliefen sie auf dem Fußboden unter Regenschirmen. Und das Haus bekam ein eigenes Gesicht. Nicht so wie heute, wo alles gerade und wohlgeordnet ist. Es störte ihn gar nicht, daß Leute sagten, wie kann ein Architekt solch ein Haus bauen.
Als er noch wenig gelebt hatte, konnte er sich so freuen, daß sein kleiner Körper erbebte. Er wußte, daß wird nie wieder kommen, schon gar nicht, wenn ich groß bin. Wird es mir auch so gehen, dachte ein Kind.
Als er groß war, machte er Spaß mit seinen Kindern. Niemals wußten sie, macht er Spaß oder ist es Ernst. Sein Lachen war so tief drinnen und kam erst hinterher zum Vorschein. Dann war er fast wieder klein. Er schlich ums Haus, wenn es schon dunkel war und niemand mehr draußen. Er klopfte hier ans Fenster, dort an eine Wand. Er heulte wie ein Tier und murmelte wie ein Geist. Drinnen horchten die Kinder gespannt und ein wenig mit Angst. Sie wußten ja, er war da, es konnte nichts passieren. Aber er war gar nicht da. Es klingelte an der Haustür. Wer mochte es sein. Er kam nicht. Er arbeitete wohl. Jemand machte Licht an und schloß die Tür auf. Er stand draußen. Verschmitzt lachte er: „Wie bin ich nach draußen gekommen, wo doch alles zugeschlossen ist?“ Die Kinder machten sich auf die Suche. Tatsächlich alles war verriegelt. Wie ist er nur von drinnen nach draußen gekommen? Niemand hat es je erfahren.
Auch das mit dem schwarzen Sarg blieb Geheimnis, bis er nicht mehr da war. Der Sarg stand auf dem Boden. Wenn er ihn öffnete, durfte niemand dabei sein. Er freute sich, daß die Neugier ungestillt blieb.
Als ein Kind kam war er stolz. Er führte es in einem hochrädrigen Wagen spazieren. Das war vorgestern nicht üblich, ja sogar verpönt. Er lachte und war stolz auf sich. Nur den Duft mochte er nicht. Er rümpfte die Nase und verschloß sie, wenn er nicht anders konnte. Am liebsten verschwand er möglichst schnell.
Mit seinen Kindern war er streng. Dann war er ganz Vater. Bei ihm hieß Vater gleich Verantwortung. Schläge waren dran, wenn etwas ausgefressen war. Oder auch andere Strafen nach seiner Phantasie wurden angeboten. Einmal war es wieder so weit. „Was wollt ihr haben einen Klaps oder eine halbe Stunde im Mantelschrank.“ Ein Kind entschied sich für Klaps, das andere für Mantelschrank. Er vergaß das Kind im Mantelschrank lange, bis das andere ihn schüchtern aufmerksam machte. Er erschrak bis ins Gesicht und stürzte zum Schrank. Passiert war wohl nichts.
Manchmal ging er im Garten spazieren. Die Bäume warfen klebrige Blätter herunter, die dufteten. Er setzte sich ein Blatt auf die Nase und roch daran. So ging er lange. An seinem Taschentuch, das als Schmuck aus einer kleinen Jackentasche guckte, durften die Kinder ab und zu riechen. Das duftete so gut. Noch als Erwachsene rochen sie den Vater in der Nase.
Sein Fingernagel am Zeigefinger der linken Hand war gespalten. „Mein Finger saß in der Kette von meinem Fahrrad. Es war aus Versehen. Ich wollte es heil machen. Da zersprang der Nagel und ist geteilt gewachsen. Ich war ja auch noch klein damals.“ Ein Kind sah auf seinen linken Fingernagel. Es hatte eine Vertiefung an derselben Stelle. Wie konnte so etwas geschehen. Hatte er weitergegeben, was ihn geschmerzt hatte. Das Kind sann immer wieder. In der Schule hatte es doch anderes gelernt über die Mitgabe der Eltern an die Kinder.
Im Garten stand ein hoher Baum. Auf einem unteren Ast saß ein Eichhörnchen und unten standen der Hund und die Kinder. Er fragte: „Soll ich, soll ich nicht?“ Er, das Eichhörnchen, der Hund. Ein Kind war wie gelähmt. Was wird er tun? Was will ich, das er tun soll? Ja oder Nein – Ja oder Nein – Ja oder Nein. Er schüttelte und der Hund biß zu.
Er konnte mit der Nase wackeln und mit den Ohren und piepte dabei. Die Kinder lachten und probierten, aber es ging nicht. Zaubern konnte er auch. Elegant sah er aus und voller Spannung, wenn er sich eine Nadel durch den Kopf schoß und hinten wieder herauszog. Die Kinder staunten und bewunderten.
Aber dann war er wieder Vater: „Hast du die Vokabeln gelernt? Zeig her.“ Für jedes Nichtwissen gab es einen kleinen, spitzen Stoß an den Kopf. Aber auch Eselsbrücken bot er an. Besser war es, wenn er erst gar nicht fragte. Schlechte Zensuren waren gar nicht erwünscht.
Wenn er auf den Bau fuhr, um die Ordnung zu überprüfen, packte er seine Kinder ins Auto, nahm sie mit, so dreckig und speckig sie vom Spielen im Garten waren. Als „Sie“ das entdeckte, gab es Worte des Vorwurfs: „Wie kannst du die Kinder nur so mitnehmen. Du prüfst die Ordnung beim Bau der Häuser und deine Kinder sind Dreckspatzen.“
Er erwiderte nichts. Kinder sind eben Kinder. Und immer wieder nahm er sie so mit. Und er lachte dabei und die Kinder lachten auch.
Und Geschichten konnte er erzählen. Gelesen hatte er sie nirgendwo. Sie kamen einfach so aus seinem Kopf. Kurze, lange, lustige, ernste, traurige. Die langen dauerten häufig drei Wochen. Alle Nachbarskinder waren da. Wenn er eine Pause machte, schrieen die Kinder: „Und dann?“ Wenn am Abend die Geschichte grausig war, sagte „Sie“: „Die Kinder schlafen die ganze Nacht nicht.“ Dann fiel jemand aus dem Bett und hatte nur geträumt. Heute erzählen die Kinder wieder den Kindern die Geschichten. Es gibt nichts Schöneres, als Auge in Auge und Ohr in Ohr zu erzählen.
Ostereier wurden jedes Jahr im Garten versteckt, auch als die Kinder erwachsen waren und Ostern nach Hause kamen. Er versteckte sie in dem großen Garten mit alten Bäumen und einem Teich, auf dem manchmal wilde Enten schwammen. Die erwachsenen Kinder blieben so lange im Haus. Auch aus dem Fenster gucken war für sie verboten. Sie wollten sich und ihm nicht den Spaß verderben. Dann erklang das Zeichen zum Suchen. Erwartungsvoll wurde der Garten durchsucht. Nichts. Sie wunderten sich über den riesenhaft langen, beweglichen Zweig, den er in der Hand trug. Sein verschmitztes Gesicht zeigte, daß er sich wieder etwas ausgedacht hatte. Plötzlich bleibt eins der erwachsenen Kinder überrascht vor dem Teich stehen. Wieso haben sie es alle nicht gesehen, waren sie doch immer wieder um den Teich herumgelaufen. Auf dem Wasser schwammen lauter Dosen mit je einem dicken Osterei. Die Osterpost war das Segel. Sie schwammen lustig herum. Der lange Stab dirigierte sie vorsichtig an Land. Die Überraschung war vollendet gelungen.
Ein Hund gehörte zu der Familie. Einmal war er so krank, daß selbst der Arzt nichts mehr machen konnte. Von weitem standen die Kinder. Er mitten unter ihnen. Leise Worte kamen von ihm und halfen, das Fremde, das Sterben zu ahnen. Nicht als Schreckliches, aber als nicht zu Verstehendes.
Ein Kind hatte eine Strafarbeit bekommen. Am Nachmittag sollte es noch einmal in die Schule fahren um sie abzuliefern. Der Vater war jetzt nicht der Vater, sondern Er. Und Er sagte nein. Das Kind war sehr verwundert. Sonst war der Schule doch zu gehorchen. Irgendwann sagte er: „Du gehst jetzt in den Garten und machst das große Beet sauber. Nach 2 Stunden zeigst du es mir.“ Nach 2 Stunden prüfte er: „Das war deine Strafarbeit.“ Er blinzelte mit den Augen, wußte er doch, wie gern das Kind im Garten arbeitete.
Wenn er große Ölbilder malte, mußten alle still sein. Dann durfte nur im Garten getobt werden. Wenn das Bild fertig war, durften die Kinder gucken. Aber nicht nur gucken, sondern sagen, ob es ihnen gefiel. Eins der Kinder wunderte sich immer wieder, daß er ernst nahm, was die Kinder sagten. Sie waren doch noch so klein. Und er änderte dann.
In der Nähe von zu Hause hatte die Familie ein Ferienhaus an einem großen See. Eine Stunde mit dem Auto. In der Schule wurden die Kinder gefragt, ob sie in die Ferien fortführen. Es wurde erzählt von weiten Reisen, von Hotels, von üppiger Kleidung. Auch das Kind wurde gefragt. Ahnungslos sprach es von dem nahen See. Schallendes Gelächter. Das hat dem Kind wehgetan.
Erst als es erwachsen war, begriff es, daß es wohl die schönsten Ferien gehabt hatte. Allein die Fahrt dorthin. Es wurde gesungen. Er stimmte an. Dort liefen sie rum wie Vagabunden, auch er. „Sie“ fand es in Ordnung. Es wurde gesungen, gekocht, gesegelt. Immer wieder war die ganze Familie auf dem Wasser in einem großen Boot. Alle mußten mal segeln. Selbst der Vierjährige wurde mit einem Tau festgebunden und an die Ruderpinne gesetzt. Er war ja dabei. Einmal war Sturm. Er wollte Segeln, die Kinder hatten Angst. Ein Kind sagte endlich ja. Der Sturm war so stark, daß er das Segel reffen mußte. Das Kind „mußte segeln“. „Ich kann nicht.“ Er: „Du mußt.“ Und es ging. Das Kind war stolz, daß es das fertig gebracht hatte.
Erika Krumwiede
Malen am Bauzaun
Die Renovierungsarbeiten an St. Katharinen waren nicht abgeschlossen worden. Die Ideen für den Platz vor der Kirche mußten begraben werden.
Aber was macht es schon. Neue Ideen sind schnell da, dem Bauzaun ein Gesicht zu geben.
So wie es in der Kirche üblich ist, mußte zuerst ein Thema da sein: „Alle an einen Tisch“?! Zufrieden damit wurden Farben und Pinsel gekauft.
Was wird passieren? Werden nur junge Leute malen und Kinder? Wird eine Farbenschlacht stattfinden? Müssen unangemessene Bilder und Sätze übergemalt werden? Ist es nur eine Aktion am Rande – ganz nett und nicht ganz ernst zu nehmen: Etwas Farbiges ist vielleicht eine gute Abwechslung!
Die Farbeimer stehen so, daß jeder sie sehen kann. Ein Blick hinein: „O sind das schöne Farben !“, und es wird gemalt.
Die beiden Sätze auf dem Bauzaun werden nur hin und wieder beachtet: Alle an einen Tisch?! Ideen zum Abendmahl.
Ich stehe vor dem Eingang der Kirche. Aufmerksam betrachte ich die Gesichter der Kirchentagsbesucher, die hineingehen und herauskommen: Wen kann ich von den Erwachsenen auffordern, sich des Bauzaunes anzunehmen?
„Möchten Sie nicht einmal malen - alles, was Sie hier so erlebt haben?“ Fast immer Kopfschütteln: „Ich kann nicht malen – ich habe es in der Schule nicht gelernt.“ Erschrecken und Verlegenheit, aber ehrlich zugegeben. Oder: „Ich muß zum Essen gehen, habe keine Zeit.“ „Ist auf dem Kirchentag auch Streß?“ Kopfnicken. Ausrede? Vielleicht mag Verlegenheit nicht zugegeben werden.
Einige wagen es aber trotzdem. Andere sehen zu, geben ihren Beitrag, und es entsteht ein Tisch mit Leuten drum herum: Kinder, Lachende, Weinende, Langhaarige, Schwarze, Weiße, Alkoholiker… alle an einen Tisch?
Eine alte Dame macht Vorschläge, ein anderer malt für sie. Nach Stunden kommt sie wieder, hat sich viele Gedanken gemacht: „Juden müssen auch dabei sein.“ Wieder malt einer ihre Ideen für sie: auch den Judenstern.
Junge Leute malen: Sonnen, Blumen und Tiere. Sie sagen: „Alle an einen Tisch!“
Jetzt malt eine Gruppe eine Blüte. Einer von ihnen fordert auf: „Jetzt kommen die Blätter.“ Eine Blüte, ein Stengel, zwei Blätter.
Ich frage: „Muß das immer so gemalt werden?! Eine Blüte, ein Stengel, zwei Blätter!“ Die junge Leute sind überrascht, ein wenig verlegen, nachdenklich: „Wie könnte es sonst aussehen???“ Eine Blüte, ein Stengel und viele Früchte an dem Stengel: Johannisbeeren - Stachelbeeren - eine Banane - ein Apfel – eine Orange … alle an einen Tisch! Auf einmal malen viele – heiter, locker, einfallsreich.
Irgendwann erscheint der erste geschriebene Satz am Bauzaun. Und nun wird geschrieben, geschrieben .. .
Ich bin ärgerlich: „Muß immer geschrieben werden?“ „In der Schule lernen wir eben schreiben - Diktate über Diktate.“
Ich spreche einen an: Give peace a chance. Dieser Satz ist von ihm.
„Warum malst du nicht? Was nützt mir dieser Satz! Ich weiß nicht, was du unter Frieden verstehst! Das muß sichtbar gemacht werden, deswegen male doch ganz konkret!“ Er fährt mich an: „Wissen Sie denn überhaupt, was Frieden ist!“ Die Mutter schaltet sich ein: „Das ist mein Sohn! Er engagiert sich bei Behinderten! „ „Dann mal es doch, das ist viel mehr als solch ein Satz!“ Er überlegt: „Ja, das könnte man malen.“
Zwei Mädchen rufen herüber: „Das ist eine gute Aufforderung. Wir schreiben nicht mehr, wir malen jetzt!“
Ein anderer sagt: „Ich kann meinen Satz nicht malen“ und geht fort. Nach Stunden kommt er wieder. „Ich habe die ganze Zeit nachgedacht. Ich weiß nicht, wie ich meinen Satz malen soll !“
Ich glaube, daß er es irgendwann weiß, und dann wird ein anderer Bauzaun da sein.
Wenn Sie mehr lesen möchten, dann finden Sie unter „Veröffentlichungen” in dem Band „Was machst du hier” eine umfangreiche Anthologie.
Weiter: Gesprächsnotizen