Literarische Texte

(Eine Aus­wahl)

 

1000 Romane auf den Stra­ßen der Stadt (Auszüge)

Auf dem Fahr­rad kommt mir eine Mut­ter ent­ge­gen mit Zwil­lin­gen. Eins sitzt vorne im Körb­chen, das andere hin­ten im Körb­chen. Sie sind bunt ange­zo­gen wie Schmet­ter­linge im Früh­jahr. Die Mut­ter zwi­schen ihnen ist ein dunk­ler Fleck.

Ein Buch­la­den mit tau­send und aber­tau­send Büchern. Da kommt einer mit wei­ßen Haa­ren forsch, vol­ler Kraft. Er sagt zu dem klei­nen Kind an sei­ner Hand: „Hier gibt es so viele Bücher, dass du blöd wirst.“ Ich lache: „Ja, das stimmt.“ Über­rascht lacht er zurück.

Im Fisch­la­den habe ich zu Mit­tag geges­sen. „Darf ich abräu­men? Hat es Ihnen geschmeckt?“ „Wol­len Sie es wirk­lich wis­sen oder fra­gen Sie nur so?“ „Nur ein­fach so.“

Nach Weih­nach­ten ste­hen wie­der lau­ter nackte Schau­fens­ter­pup­pen im Fens­ter. Die Frauen sind nackt, die Män­ner wie­der ange­zo­gen. Der Vater sagt zu sei­nen Kin­dern: „Die Frauen wer­den zu Ostern angezogen.“

Ein ver­ros­te­ter Mann geht mit­ten durch eine ver­ros­tete Frau. Die Frau tut das­selbe schon lange.

Heute wird in der Stadt gestreikt. Schon nach­mit­tags sind die Stra­ßen­bahn­schie­nen ver­ros­tet. So schnell geht das.

Es ist nicht zu fas­sen. Ich kann ein­fach nichts lesen, wo nicht „in“ erscheint. Kleingeschrieben- Groß­ge­schrie­ben. Aber immer ein Anhäng­sel. Wer hat sich das nur aus­ge­dacht? Viel­leicht sogar die Män­ner. Wir sol­len Anhäng­sel blei­ben. Warum mer­ken die Frauen das nicht? Sie ver­tei­di­gen sogar das Anhäng­sel. Ich bin kein Anhäng­sel und will auf kei­nen Fall eins sein! Ohne Anhäng­sel haben wir die Chance, eine neue Struk­tur zu ent­wi­ckeln. Das kön­nen nur wir. „In“ ist nicht mehr „In“.

 


 

Das Jahr – die Zeit

 

Ges­tern ist eigent­lich morgen

was war morgen

was wird ges­tern sein

ich weiß es nicht

was ges­tern war – weiß ich

was mor­gen sein wird – weiß ich nicht

das stimmt, wenn ich an heute denke

ges­tern läuft in Jahr­tau­sende und überall

ist etwas von mir

jeder Tag ist klein wie eine Zelle und groß

wie das Universum

jeder Tag und ich bin in jedem Tag

unbe­kannt, immer wie­der unbekannt

 

 

Trä­nen

 

Ges­tern war ich traurig

die Leute waren so groß

sie sahen nichts

eins, noch unfä­hig zu reden

noch unfä­hig zu gehen

sah mich an

seine win­zi­gen Fin­ger tasteten

vor­sich­tig in mei­nem Gesicht

sie hin­ter­lie­ßen Spuren

die ich lange spürte

ohne sie zu entfernen

 

 

Grün

 

lange Gran­nen, weich wie Flaum

der Wind streicht dar­über hin

wie eine Hand, die über Samt streicht

 

Bewe­gen ohne Kraft - ohne Willen

kaum spür­bar - wie lange Wellen

ein Spiel ohne Seufzer

 

Die­ses Genie­ßen ist weltvergessen

setzt sich fort und kommt wieder

auf klei­nem Raum

 

gren­zen­los wie ein nie

gespro­che­nes Wort

 


 

Flüs­tern

Ein fei­nes altes Geschirr steht in einem fei­nen alten Schrank. Beide sind kost­bar und schön. So kost­bar und schön, dass nie­mand wagt, sie zu berüh­ren. Gene­ra­tio­nen schon haben das durch­sich­tige Por­zel­lan nur ehr­furchts­voll von wei­tem betrach­tet. Nie­mand kennt die Geschichte und könnte es doch so leicht erfah­ren. Die Tas­sen und Tel­ler sagen es.

Vor die­sem kost­ba­ren Schrank und die­sem kost­ba­ren Geschirr sitzt eine feine alte Frau in einem fei­nen alten Stuhl. Sie sitzt lang so und flüs­tert vor sich hin. Die ande­ren den­ken, dass sie träumt oder woan­ders ist. Die feine alte Frau aber spricht die Geschichte des fei­nen alten Geschirrs. Sie wun­dert sich, dass die ande­ren die Geschichte nicht ken­nen, denn sie steht ja auf jeder Tasse, auf jedem Tel­ler mit durch­sich­ti­gen Buch­sta­ben. Eine merk­wür­dige Geschichte.

Nie­mand spricht die feine alte Frau an, wenn sie vor dem kost­ba­ren und schö­nen Geschirr sitzt. Sie ist dann so weit fort. Irgend­wann stirbt die feine alte Frau. Sie hat bestimmt, dass das kost­bare und schöne Geschirr in ihren Sarg gelegt und mit ihr begra­ben wird.”

 

Spie­gel

Ich wohne hin­ter der Tür mit dem klei­nen Spie­gel. Alle den­ken: ein Guck­loch von drau­ßen nach drinnen.

Einer kam lachen­den Auges: Der kleine Spie­gel ist das Schönste bei dir.

Irgend­wann ist der Spie­gel ver­schwun­den. Es war wohl einer da, der sehen wollte, ob etwas für ihn zu holen sei. Er fand nur sich.”

 

Früh­ling

Der Früh­ling dau­ert tau­send Jahre.
Man­che Knos­pen sind nur zu ahnen.
Andere sind so dick, dass sie bald auf­plat­zen.
Noch andere fal­len ein­fach ab.
Und man­che wer­den abge­ris­sen und zertreten.”

 

Kuriose Sätze und Aphorismen

(Eine Aus­wahl aus Zettel-Sprüchen zur Aus­stel­lung „20 Jahre Medi­en­zen­trale“ vom 21.4. – 3.5.1996 im Amt für Gemeindedienst)

Große Höhen sind leicht vernebelt

Schnee von ges­tern ist heute warm

Wind macht biegsam

Leit­plan­ken ver­hin­dern die freie Entfaltung

Ein Baum fällt nicht so leicht wie zehn

An mei­ner Hand zähle ich immer sechs Finger

Nicht­rau­cher tra­gen ein rotes Kreuz

Der Erwach­sene ist klei­ner als das Kind

Hohe Geschwin­dig­keit lockt zu nicht-verbaler Kommunikation

Zwei Beine sind zu wenig für den Menschen

Rüben sind dre­ckig und süß

Hetze braucht viel Zeit

Krü­cken behin­dern das Gehen

Räder sind keine Mit­tel zur Fortbewegung

 

(Eine Aus­wahl aus einer Samm­lung unver­öf­fent­lich­ter Aphorismen)

Tech­nik ist der Abgrund der den Him­mel verspricht

Glo­ba­li­sie­rung macht die Erde zu einem Stecknadelkopf

Medien tan­zen den Rhyth­mus der Macht

Sau­ber­keit setzt Schmutz voraus

Luft holen kann töd­lich sein

Geld beißt ins Gehirn

Wir rei­sen ohne den Geruch anzunehmen

Krieg ist eine gewalt­same Ent­blö­ßung des Menschen

Ver­schwen­dung ist der Pakt mit der Armut

Geld wird von Lügen bewohnt

Gewinn ohne Kennt­nis bedeu­tet Verlust

Faul­heit dik­tiert Erfindungen

Der Schöp­fer Mensch ist ein Nichts neben dem Gänseblümchen

Ent­halt­sam­keit macht mager

Skru­pel haben zwei Gesichter

Scha­den­freude zeich­net ein grin­sen­des Gesicht

Recht haben wol­len und sich ent­schul­di­gen sind Geschwis­ter, die sich nicht mögen

Ver­tei­di­gung ohne Kennt­nis endet in Blamage

Im Intel­lekt ertrin­ken heißt: keine Visio­nen haben

Halbe Wahr­hei­ten sind schlim­mer als tau­send Lügen

Ein Geheim­nis bewah­ren bedeu­tet Verzicht

Erzie­hung ist Sache der Kin­der in jeder Hinsicht

Medien sau­gen Blut aus Men­schen und bie­ten es als Getränk an

Schleich­wege enden im Irrgarten

Den Tod gefun­den“ – Habe ich ihn denn gesucht

 

Der alte Mann und seine Kinder

Er hat wirk­lich gelebt, vor­ges­tern. Nicht nur äußer­lich, auch inner­lich. Merk­wür­dig, manch­mal hat er auch über­mor­gen gelebt. Ange­fan­gen hat es mit sei­ner eige­nen Geburt. Erst dann hat er dafür gesorgt, daß nach ihm gebo­ren würde. Viel spä­ter als es sonst üblich war. Er fand sie eben nicht. Ein Bild gab es bei ihm innen, das war so schön. Gab es sie hier über­haupt auf Erden? Und dann war „Sie“ da, fast aus Ver­se­hen. Hin­ter der Tür hörte er Namen. Die könnte es sein, die oder nicht. Der Name kam ihm häß­lich vor. Er ahmte ihn nach, iro­nisch, fast albern und lachte dabei. Die Tür öff­nete sich und das Bild war Wirk­lich­keit. Schön wie eine geschlos­sene Rose ohne Duft. Ihr Name war der häß­li­che. Er ver­gaß es. Lachend öff­nete er Blü­ten­blatt um Blü­ten­blatt, bis sie duftete.

Ein klei­nes Haus und ein gro­ßer Gar­ten, das war es. Nun kam „Sie“ dazu. Das ging eine Weile so wei­ter. Aber dann kamen die Kin­der. Bei jedem wurde das Dach abge­nom­men vom Haus und ein Grö­ße­res dar­auf gesetzt. Der­weil schlie­fen sie auf dem Fuß­bo­den unter Regen­schir­men. Und das Haus bekam ein eige­nes Gesicht. Nicht so wie heute, wo alles gerade und wohl­ge­ord­net ist. Es störte ihn gar nicht, daß Leute sag­ten, wie kann ein Archi­tekt solch ein Haus bauen.

Als er noch wenig gelebt hatte, konnte er sich so freuen, daß sein klei­ner Kör­per erbebte. Er wußte, daß wird nie wie­der kom­men, schon gar nicht, wenn ich groß bin. Wird es mir auch so gehen, dachte ein Kind.

Als er groß war, machte er Spaß mit sei­nen Kin­dern. Nie­mals wuß­ten sie, macht er Spaß oder ist es Ernst. Sein Lachen war so tief drin­nen und kam erst hin­ter­her zum Vor­schein. Dann war er fast wie­der klein. Er schlich ums Haus, wenn es schon dun­kel war und nie­mand mehr drau­ßen. Er klopfte hier ans Fens­ter, dort an eine Wand. Er heulte wie ein Tier und mur­melte wie ein Geist. Drin­nen horch­ten die Kin­der gespannt und ein wenig mit Angst. Sie wuß­ten ja, er war da, es konnte nichts pas­sie­ren. Aber er war gar nicht da. Es klin­gelte an der Haus­tür. Wer mochte es sein. Er kam nicht. Er arbei­tete wohl. Jemand machte Licht an und schloß die Tür auf. Er stand drau­ßen. Ver­schmitzt lachte er: „Wie bin ich nach drau­ßen gekom­men, wo doch alles zuge­schlos­sen ist?“ Die Kin­der mach­ten sich auf die Suche. Tat­säch­lich alles war ver­rie­gelt. Wie ist er nur von drin­nen nach drau­ßen gekom­men? Nie­mand hat es je erfah­ren.
Auch das mit dem schwar­zen Sarg blieb Geheim­nis, bis er nicht mehr da war. Der Sarg stand auf dem Boden. Wenn er ihn öff­nete, durfte nie­mand dabei sein. Er freute sich, daß die Neu­gier unge­stillt blieb.

Als ein Kind kam war er stolz. Er führte es in einem hoch­räd­ri­gen Wagen spa­zie­ren. Das war vor­ges­tern nicht üblich, ja sogar ver­pönt. Er lachte und war stolz auf sich. Nur den Duft mochte er nicht. Er rümpfte die Nase und ver­schloß sie, wenn er nicht anders konnte. Am liebs­ten ver­schwand er mög­lichst schnell.

Mit sei­nen Kin­dern war er streng. Dann war er ganz Vater. Bei ihm hieß Vater gleich Ver­ant­wor­tung. Schläge waren dran, wenn etwas aus­ge­fres­sen war. Oder auch andere Stra­fen nach sei­ner Phan­ta­sie wur­den ange­bo­ten. Ein­mal war es wie­der so weit. „Was wollt ihr haben einen Klaps oder eine halbe Stunde im Man­tel­schrank.“ Ein Kind ent­schied sich für Klaps, das andere für Man­tel­schrank. Er ver­gaß das Kind im Man­tel­schrank lange, bis das andere ihn schüch­tern auf­merk­sam machte. Er erschrak bis ins Gesicht und stürzte zum Schrank. Pas­siert war wohl nichts.

Manch­mal ging er im Gar­ten spa­zie­ren. Die Bäume war­fen kleb­rige Blät­ter her­un­ter, die duf­te­ten. Er setzte sich ein Blatt auf die Nase und roch daran. So ging er lange. An sei­nem Taschen­tuch, das als Schmuck aus einer klei­nen Jacken­ta­sche guckte, durf­ten die Kin­der ab und zu rie­chen. Das duf­tete so gut. Noch als Erwach­sene rochen sie den Vater in der Nase.

Sein Fin­ger­na­gel am Zei­ge­fin­ger der lin­ken Hand war gespal­ten. „Mein Fin­ger saß in der Kette von mei­nem Fahr­rad. Es war aus Ver­se­hen. Ich wollte es heil machen. Da zer­sprang der Nagel und ist geteilt gewach­sen. Ich war ja auch noch klein damals.“ Ein Kind sah auf sei­nen lin­ken Fin­ger­na­gel. Es hatte eine Ver­tie­fung an der­sel­ben Stelle. Wie konnte so etwas gesche­hen. Hatte er wei­ter­ge­ge­ben, was ihn geschmerzt hatte. Das Kind sann immer wie­der. In der Schule hatte es doch ande­res gelernt über die Mit­gabe der Eltern an die Kinder.

Im Gar­ten stand ein hoher Baum. Auf einem unte­ren Ast saß ein Eich­hörn­chen und unten stan­den der Hund und die Kin­der. Er fragte: „Soll ich, soll ich nicht?“ Er, das Eich­hörn­chen, der Hund. Ein Kind war wie gelähmt. Was wird er tun? Was will ich, das er tun soll? Ja oder Nein – Ja oder Nein – Ja oder Nein. Er schüt­telte und der Hund biß zu.

Er konnte mit der Nase wackeln und mit den Ohren und piepte dabei. Die Kin­der lach­ten und pro­bier­ten, aber es ging nicht. Zau­bern konnte er auch. Ele­gant sah er aus und vol­ler Span­nung, wenn er sich eine Nadel durch den Kopf schoß und hin­ten wie­der her­aus­zog. Die Kin­der staun­ten und bewunderten.

Aber dann war er wie­der Vater: „Hast du die Voka­beln gelernt? Zeig her.“ Für jedes Nicht­wis­sen gab es einen klei­nen, spit­zen Stoß an den Kopf. Aber auch Esels­brü­cken bot er an. Bes­ser war es, wenn er erst gar nicht fragte. Schlechte Zen­su­ren waren gar nicht erwünscht.

Wenn er auf den Bau fuhr, um die Ord­nung zu über­prü­fen, packte er seine Kin­der ins Auto, nahm sie mit, so dre­ckig und spe­ckig sie vom Spie­len im Gar­ten waren. Als „Sie“ das ent­deckte, gab es Worte des Vor­wurfs: „Wie kannst du die Kin­der nur so mit­neh­men. Du prüfst die Ord­nung beim Bau der Häu­ser und deine Kin­der sind Dreckspatzen.“

Er erwi­derte nichts. Kin­der sind eben Kin­der. Und immer wie­der nahm er sie so mit. Und er lachte dabei und die Kin­der lach­ten auch.

Und Geschich­ten konnte er erzäh­len. Gele­sen hatte er sie nir­gendwo. Sie kamen ein­fach so aus sei­nem Kopf. Kurze, lange, lus­tige, ernste, trau­rige. Die lan­gen dau­er­ten häu­fig drei Wochen. Alle Nach­bars­kin­der waren da. Wenn er eine Pause machte, schrieen die Kin­der: „Und dann?“ Wenn am Abend die Geschichte grau­sig war, sagte „Sie“: „Die Kin­der schla­fen die ganze Nacht nicht.“ Dann fiel jemand aus dem Bett und hatte nur geträumt. Heute erzäh­len die Kin­der wie­der den Kin­dern die Geschich­ten. Es gibt nichts Schö­ne­res, als Auge in Auge und Ohr in Ohr zu erzählen.

Oster­eier wur­den jedes Jahr im Gar­ten ver­steckt, auch als die Kin­der erwach­sen waren und Ostern nach Hause kamen. Er ver­steckte sie in dem gro­ßen Gar­ten mit alten Bäu­men und einem Teich, auf dem manch­mal wilde Enten schwam­men. Die erwach­se­nen Kin­der blie­ben so lange im Haus. Auch aus dem Fens­ter gucken war für sie ver­bo­ten. Sie woll­ten sich und ihm nicht den Spaß ver­der­ben. Dann erklang das Zei­chen zum Suchen. Erwar­tungs­voll wurde der Gar­ten durch­sucht. Nichts. Sie wun­der­ten sich über den rie­sen­haft lan­gen, beweg­li­chen Zweig, den er in der Hand trug. Sein ver­schmitz­tes Gesicht zeigte, daß er sich wie­der etwas aus­ge­dacht hatte. Plötz­lich bleibt eins der erwach­se­nen Kin­der über­rascht vor dem Teich ste­hen. Wieso haben sie es alle nicht gese­hen, waren sie doch immer wie­der um den Teich her­um­ge­lau­fen. Auf dem Was­ser schwam­men lau­ter Dosen mit je einem dicken Osterei. Die Oster­post war das Segel. Sie schwam­men lus­tig herum. Der lange Stab diri­gierte sie vor­sich­tig an Land. Die Über­ra­schung war voll­en­det gelungen.

Ein Hund gehörte zu der Fami­lie. Ein­mal war er so krank, daß selbst der Arzt nichts mehr machen konnte. Von wei­tem stan­den die Kin­der. Er mit­ten unter ihnen. Leise Worte kamen von ihm und hal­fen, das Fremde, das Ster­ben zu ahnen. Nicht als Schreck­li­ches, aber als nicht zu Verstehendes.

Ein Kind hatte eine Straf­ar­beit bekom­men. Am Nach­mit­tag sollte es noch ein­mal in die Schule fah­ren um sie abzu­lie­fern. Der Vater war jetzt nicht der Vater, son­dern Er. Und Er sagte nein. Das Kind war sehr ver­wun­dert. Sonst war der Schule doch zu gehor­chen. Irgend­wann sagte er: „Du gehst jetzt in den Gar­ten und machst das große Beet sau­ber. Nach 2 Stun­den zeigst du es mir.“ Nach 2 Stun­den prüfte er: „Das war deine Straf­ar­beit.“ Er blin­zelte mit den Augen, wußte er doch, wie gern das Kind im Gar­ten arbeitete.

Wenn er große Ölbil­der malte, muß­ten alle still sein. Dann durfte nur im Gar­ten getobt wer­den. Wenn das Bild fer­tig war, durf­ten die Kin­der gucken. Aber nicht nur gucken, son­dern sagen, ob es ihnen gefiel. Eins der Kin­der wun­derte sich immer wie­der, daß er ernst nahm, was die Kin­der sag­ten. Sie waren doch noch so klein. Und er änderte dann.

In der Nähe von zu Hause hatte die Fami­lie ein Feri­en­haus an einem gro­ßen See. Eine Stunde mit dem Auto. In der Schule wur­den die Kin­der gefragt, ob sie in die Ferien fort­füh­ren. Es wurde erzählt von wei­ten Rei­sen, von Hotels, von üppi­ger Klei­dung. Auch das Kind wurde gefragt. Ahnungs­los sprach es von dem nahen See. Schal­len­des Geläch­ter. Das hat dem Kind wehgetan.

Erst als es erwach­sen war, begriff es, daß es wohl die schöns­ten Ferien gehabt hatte. Allein die Fahrt dort­hin. Es wurde gesun­gen. Er stimmte an. Dort lie­fen sie rum wie Vaga­bun­den, auch er. „Sie“ fand es in Ord­nung. Es wurde gesun­gen, gekocht, gese­gelt. Immer wie­der war die ganze Fami­lie auf dem Was­ser in einem gro­ßen Boot. Alle muß­ten mal segeln. Selbst der Vier­jäh­rige wurde mit einem Tau fest­ge­bun­den und an die Ruder­pinne gesetzt. Er war ja dabei. Ein­mal war Sturm. Er wollte Segeln, die Kin­der hat­ten Angst. Ein Kind sagte end­lich ja. Der Sturm war so stark, daß er das Segel ref­fen mußte. Das Kind „mußte segeln“. „Ich kann nicht.“ Er: „Du mußt.“ Und es ging. Das Kind war stolz, daß es das fer­tig gebracht hatte.

 Erika Krumwiede

Malen am Bauzaun

Die Reno­vie­rungs­ar­bei­ten an St. Katha­ri­nen waren nicht abge­schlos­sen wor­den. Die Ideen für den Platz vor der Kir­che muß­ten begra­ben werden.

Aber was macht es schon. Neue Ideen sind schnell da, dem Bau­zaun ein Gesicht zu geben.

So wie es in der Kir­che üblich ist, mußte zuerst ein Thema da sein: „Alle an einen Tisch“?! Zufrie­den damit wur­den Far­ben und Pin­sel gekauft.

Was wird pas­sie­ren? Wer­den nur junge Leute malen und Kin­der? Wird eine Far­ben­schlacht statt­fin­den? Müs­sen unan­ge­mes­sene Bil­der und Sätze über­ge­malt wer­den? Ist es nur eine Aktion am Rande – ganz nett und nicht ganz ernst zu neh­men: Etwas Far­bi­ges ist viel­leicht eine gute Abwechslung!

Die Farb­ei­mer ste­hen so, daß jeder sie sehen kann. Ein Blick hin­ein: „O sind das schöne Far­ben !“, und es wird gemalt.

Die bei­den Sätze auf dem Bau­zaun wer­den nur hin und wie­der beach­tet: Alle an einen Tisch?! Ideen zum Abendmahl.

Ich stehe vor dem Ein­gang der Kir­che. Auf­merk­sam betrachte ich die Gesich­ter der Kir­chen­tags­be­su­cher, die hin­ein­ge­hen und her­aus­kom­men: Wen kann ich von den Erwach­se­nen auf­for­dern, sich des Bau­zau­nes anzunehmen?

Möch­ten Sie nicht ein­mal malen - alles, was Sie hier so erlebt haben?“ Fast immer Kopf­schüt­teln: „Ich kann nicht malen – ich habe es in der Schule nicht gelernt.“ Erschre­cken und Ver­le­gen­heit, aber ehr­lich zuge­ge­ben. Oder: „Ich muß zum Essen gehen, habe keine Zeit.“ „Ist auf dem Kir­chen­tag auch Streß?“ Kopf­ni­cken. Aus­rede? Viel­leicht mag Ver­le­gen­heit nicht zuge­ge­ben werden.

Einige wagen es aber trotz­dem. Andere sehen zu, geben ihren Bei­trag, und es ent­steht ein Tisch mit Leu­ten drum herum: Kin­der, Lachende, Wei­nende, Lang­haa­rige, Schwarze, Weiße, Alko­ho­li­ker… alle an einen Tisch?

Eine alte Dame macht Vor­schläge, ein ande­rer malt für sie. Nach Stun­den kommt sie wie­der, hat sich viele Gedan­ken gemacht: „Juden müs­sen auch dabei sein.“ Wie­der malt einer ihre Ideen für sie: auch den Judenstern.

Junge Leute malen: Son­nen, Blu­men und Tiere. Sie sagen: „Alle an einen Tisch!“

Jetzt malt eine Gruppe eine Blüte. Einer von ihnen for­dert auf: „Jetzt kom­men die Blät­ter.“ Eine Blüte, ein Sten­gel, zwei Blätter.

Ich frage: „Muß das immer so gemalt wer­den?! Eine Blüte, ein Sten­gel, zwei Blät­ter!“ Die junge Leute sind über­rascht, ein wenig ver­le­gen, nach­denk­lich: „Wie könnte es sonst aus­se­hen???“ Eine Blüte, ein Sten­gel und viele Früchte an dem Sten­gel: Johan­nis­bee­ren - Sta­chel­bee­ren - eine Banane - ein Apfel – eine Orange … alle an einen Tisch! Auf ein­mal malen viele – hei­ter, locker, einfallsreich.

Irgend­wann erscheint der erste geschrie­bene Satz am Bau­zaun. Und nun wird geschrie­ben, geschrieben .. .

Ich bin ärger­lich: „Muß immer geschrie­ben wer­den?“ „In der Schule ler­nen wir eben schrei­ben - Dik­tate über Diktate.“

Ich spre­che einen an: Give peace a chance. Die­ser Satz ist von ihm.

Warum malst du nicht? Was nützt mir die­ser Satz! Ich weiß nicht, was du unter Frie­den ver­stehst! Das muß sicht­bar gemacht wer­den, des­we­gen male doch ganz kon­kret!“ Er fährt mich an: „Wis­sen Sie denn über­haupt, was Frie­den ist!“ Die Mut­ter schal­tet sich ein: „Das ist mein Sohn! Er enga­giert sich bei Behin­der­ten! „ „Dann mal es doch, das ist viel mehr als solch ein Satz!“ Er über­legt: „Ja, das könnte man malen.“

Zwei Mäd­chen rufen her­über: „Das ist eine gute Auf­for­de­rung. Wir schrei­ben nicht mehr, wir malen jetzt!“

Ein ande­rer sagt: „Ich kann mei­nen Satz nicht malen“ und geht fort. Nach Stun­den kommt er wie­der. „Ich habe die ganze Zeit nach­ge­dacht. Ich weiß nicht, wie ich mei­nen Satz malen soll !“

Ich glaube, daß er es irgend­wann weiß, und dann wird ein ande­rer Bau­zaun da sein.

 

Wenn Sie mehr lesen möch­ten, dann fin­den Sie unter „Ver­öf­fent­li­chun­gen” in dem Band „Was machst du hier” eine umfang­rei­che Anthologie.


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